Der Spätsozialismus, insbesondere die Periode der 1970er- und der ersten Hälfte der 1980er-Jahre, gilt in Osteuropa als eine Zeit der wachsenden Berechenbarkeit von Macht- und Herrschaftsbedingungen, einer gewissen politischen Liberalisierung und der Entpolitisierung des Alltags. In Albanien befanden sich hingegen Staat und Gesellschaft in einer Art Dauerausnahmezustand. Der seit 1944 regierende überzeugte Stalinist Enver Hoxha strebte mit zunehmendem Fanatismus die Erzwingung einer totalitären Kontrolle an und ging dabei mit außergewöhnlicher Brutalität vor. Im einzigen Land Europas, das den KSZE-Prozess boykottierte, wurden die Straflager mit immer mehr neuen "Feinden" gefüllt, ihre Familienmitglieder und Verwandten in Sippenhaft genommen und systematisch diskriminiert.

28 Jahre nach dem Systemwechsel steckt die auf Archivquellen gestützte und methodisch reflektierte Aufarbeitung von Hoxhas Repressionspolitik, insbesondere von jener in der Spätphase, noch in ihren Anfängen. "Ein ganzes Volk atmete Angst", meinte die Schriftstellerin Lindita Arapi in einem 2015 publizierten Artikel. Neulich ausgewertete Dokumente aus dem ehemaligen Archiv der Partei der Arbeit Albaniens geben Einblick in jene Atmosphäre der Angst, Paranoia, Intrigen und Denunziationen, die den Dauerausnahmezustand der Endphase der Ära Enver Hoxhas charakterisierte und das albanische Herrschaftssystem vom Spätsozialismus der anderen Ostblockländer unterscheidet.

"Die Feinde und Verräter müssen wie eine Zitrone ausgepresst werden und die härtesten Strafen bekommen"

"Wir Albaner lieben unsere Freunde mit unserem ganzen Herzen und hassen unsere Feinde mit unserem ganzen Herzen", meinte einmal Mehmet Shehu, der zweitwichtigste Mann im kommunistischen Albanien nach Hoxha. Dieses für die politische Kultur der Zeit charakteristische dichotomische Denken sollte auch für ihn selbst gelten. In der Nacht des 17. Dezember 1981 starb Shehu unter bis heute nicht ausreichend geklärten Umständen. Fast ein Jahr später erklärte Hoxha seinen jahrzehntelang engsten Vertrauten zum schlimmsten Feind und niederträchtigsten Verräter. Shehu habe im Auftrag der CIA, der jugoslawischen UDB, des sowjetischen KGB und des britischen Secret Intelligence Service (unter anderem unter dem Codenamen BAB-008) seit vielen Jahren die Liquidierung Hoxhas geplant, dann aber aus Angst vor Aufdeckung Selbstmord begangen.

Enver Hoxha und Mehmet Shehu bei einer Großkundgebung 1976.
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Dem mysteriösen Tod Shehus folgte eine Kampagne zur "Ausforschung" seiner "Bande". Der Innen-, der Verteidigungs-, der Außen- und der Gesundheitsminister, einige hohe parteistaatliche Funktionäre und die meisten Familienangehörigen Shehus wurden erschossen oder kamen in der Haft um. Die "feindlichen Komplizen" wurden jedoch auch bis in die untersten Instanzen vermutet. Repressionswellen gehörten zu immer wiederkehrenden Phänomenen im kommunistischen Albanien, das auch in der Spätphase am Stalinismus festhielt. Und wie üblich in solchen Zeiten erlebten Denunziationen einerseits und Herrscherhuldigungsrituale andererseits eine Hochphase.

Innerhalb des parteistaatlichen Apparats kam es zu massiven gegenseitigen Beschuldigungen. Von allen Seiten kamen Aufrufe zur "Demolierung" der "Shehu-Bande", zur Ausweitung der Säuberungen sowie dazu, konkrete Hinweise auf "feindliche Tätigkeiten" bestimmter Personen, auch Kollegen und Bekannte, preiszugeben. "Die Feinde und Verräter müssen wie eine Zitrone ausgepresst werden und die härtesten Strafen bekommen", forderten Kommunisten der Basisorganisationen, während sie Hoxhas "Wachsamkeit" und die "Säuberung des gesunden Körpers der Partei" feierten. Delegierte der Parteiführung, die die "Analysen" der versammelten Kollektive überwachten, berichteten von der "Vervielfachung" der "Liebe" für Partei und Hoxha und des "Hasses" für die "Feinde".

Wie ein "Verrückter" doch von Nutzen für den Innenminister sein konnte

Die Sitzung der Sekretäre des Zentralkomitees der Partei der Arbeit Albaniens am 6. Dezember 1982 begann mit der Besprechung eines mühsamen Themas. Einer der Parteiführer erstattete Bericht über unterschiedliche Probleme mit parteistaatlichen Funktionären, "Kadern" im kommunistischen Jargon. Hoxha stellte Fragen, übte ab und zu Kritik und ging auf weitere Fälle ein. Nach einer langwierigen Diskussion erzählte er eine "lustige" Geschichte. Er habe einen Brief von nicht weniger als 110 Seiten bekommen, in dem sehr viele Menschen angeschwärzt worden seien. "Ein Buch", spottete einer der "Genossen". "Ein Psychopath", belustigte sich Hoxha. Würde man dem Briefverfasser Glauben schenken, seien alle Feinde. Es fehle nur noch, dass sein Sohn auch denunziert werde. Die "Genossen" brachen in Gelächter aus. Die Laune Hoxhas wurde immer besser. "Eine Person mit einem seltsamen Gedächtnis und großem Beobachtungsvermögen. Genau richtig für Hekuran", fügte er noch einen Witz hinzu. "Wir stellen ihn ein", erwiderte der angesprochene Innenminister, und die "Genossen" lachten wieder.

"Ein richtiger Verrückter", bestätigte auch Ramiz Alia, der nach der "Mehmet-Shehu-Affäre" zu Hoxhas engsten Vertrauten aufgestiegen war. Derselbe Mann habe ihn auch immer wieder kontaktiert. Er erzähle nur Blödsinn. Nun wurde Hoxha aber wieder ernst: "Il y a anguille sous roche", widersprach er. Und weil seine Mitarbeiter im isolierten Albanien anders als er, der in Frankreich und Belgien studiert und gelebt hatte, kein Französisch konnten, erklärte er, es könnte doch "etwas im Busch sein". Man solle nicht alles glauben, aber etwas Wahres stecke hinter den Denunziationen dennoch. "Ja, ja, das tut es", lenkte schnell der verunsicherte Alia ein, der wusste, dass man sich der Position des Parteiführers sofort und voll und ganz anschließen musste, um zu überleben. So einigten sich die "Genossen", dass das Denunziationsschreiben des "Verrückten" doch von Nutzen war.

Eine Sitzung des Politbüros des ZK der PAA 1981. Die Stimmung bei solchen Treffen war stark von den Launen Enver Hoxhas abhängig; die Gespräche bewegten sich zwischen kumpelhaften Unterhaltungen, Beschuldigungen, Kritik und Rechtfertigungen.
Foto: Public Domain

Warum der Denunziant von Hoxhas "Feind" ein "Dreck" war

Mihallaq Ziçishti war ein Weggefährte Hoxhas seit dem Partisanenkrieg gewesen, ein Träger hoher Parteifunktionen und für viele Jahre Vizeinnenminister beziehungsweise Leiter des Geheimdiensts. Im Zuge der Kampagne zur "Ausforschung" der "Mehmet-Shehu-Bande" wurde er verhaftet und zu 25 Jahren Haft verurteilt. Sein Bruder Llambi, zu diesem Zeitpunkt Gesundheitsminister, wurde gar zum Tod verurteilt. Hoxha beschuldigte die Brüder Ziçishti, Komplizen Shehus gewesen zu sein und dass sie unter anderem versucht hätten, ihn zu vergiften. Als Denunziationsschreiben angebliche "Beweise" für ihre "feindliche Tätigkeit" lieferten, griff er jedoch deren Verfasser scharf an. In der Sitzung des Zentralkomitee-Sekretariats vom 13. September 1983 tobte er, wie in einem Dokument festgehalten wurde:

"Wir können jetzt nicht akzeptieren, dass jemand aufsteht und sagt, dass der Vater von Mihallaq, wie ganz Korça [Stadt in Südostalbanien] weiß, Spion der Griechen war, dass er eine Geliebte hatte, wie ganz Korça weiß, die eine Agentin des Intelligence Service war, und dass Mihallaq, wie ganz Korça weiß, ein unmoralischer Mensch war. Wenn ganz Korça all diese Sachen gewusst haben soll, warum ist kein Mensch gekommen, um mir wenigstens zu sagen, dass Mihallaq ein solcher ist?! […] Mein einziger Verdacht bezüglich Mihallaq gründete darin, dass er aus Ziçisht war, und zweitens, dass er vom Innenministerium weggegangen ist. […] Ein solcher Mensch [der Briefverfasser] kann gar nicht wachsam sein! Er ist nichts, ein Dreck ist er! Mit diesen [Sachen], die er sagt, was glaubt er, dass er macht? Eine Heldentat?! Damit will er sagen, dass die Partei gar nicht wachsam war und in ihrem Schoß all die Feinde versammelt hat. Dahin, an diesen Punkt führt dies."

Denunziationen stellten ein wichtiges Mittel der staatlichen Kontrolle, Informationsbeschaffung und Herrscherlegitimation dar. Dennoch konnten selbst solche nach außen hin eindeutig regimeloyale Praktiken auch unvorhergesehene delegitimierende Folgen haben. Gesellschaftliche Phänomene ließen sich also nicht in totalitärer Manier lenken. Darauf reagierte die Parteiführung aber mit repressiven Mitteln. Die Archivdokumente zeigen, dass Repression und Repressionsdrohung sämtlichen Parteiführern als unverzichtbares Herrschaftsinstrument galten.

Das Angst- und Unsicherheitsregime stalinistischen Charakters hing jedoch überwiegend an Enver Hoxha. Abwechselnd prangerte er mal Liberalismus, mal Konservatismus und Radikalismus an. Konstant war nur die Kritik. Die Dynamik der Repression war charakteristischerweise unvorhersehbar. "Beziehungen" einerseits, Intrigen und Denunziationen andererseits spielten eine wichtige Rolle.

Eine zerrüttete Gesellschaft

Enver Hoxhas Herrschaftsstil, der auf Erzeugung fortwährender Unsicherheit auf allen Ebenen und eines hohen psychischen Drucks basierte, schuf eine Atmosphäre von Furcht, Misstrauen, Intrigen, gegenseitiger Überwachung, Kritik und Denunziationen, deren Folgen die Albanerinnen und Albaner noch heute schwer belasten. Das repressive und paranoide Regime hinterließ einen riesigen Giftschrank und eine zerrüttete Gesellschaft, in der es viele Traumatisierte, aber auch ehemalige Täter, Mittäter, opportunistische Nutznießer und Mitmacher gibt. Über Shehus Tod und andere Sensationsgeschichten spekuliert die Boulevardpresse nahezu tagtäglich. Von einer kritischen und aufrichtigen, die ganze Gesellschaft einschließenden Aufarbeitung der kommunistischen Vergangenheit ist Albanien jedoch noch weit entfernt. (Idrit Idrizi, 25.3.2019)