Die Silvesternacht des Jahres 2015 ist 2019 strafrechtlich aufgearbeitet. Mehr als 600 Frauen zeigten Sexualdelikte an, drei Sexualstraftäter konnten letztlich überführt werden.

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Im Gastkommentar erinnert sich die Strafrechtlerin Monika Frommel an den Zeitpunkt, der "das Ende der Willkommenskultur" einläutete. Für Frommel sind keine Zweifel angebracht an der Bereitschaft der Justiz, durchzugreifen.

"Hunderte Opfer, fast keine Täter?" – so lautet die Meldung des "Spiegel" im Rückblick zur Silvesternacht in Köln 2015. 1304 Strafanzeigen und nur 32 Verurteilungen, die meisten wegen Handydiebstahls, das verwundert. Aber nur auf den ersten Blick stellt sich die Frage, ob hinter allen Strafanzeigen gravierende Opfergeschichten, gar sexuell motivierte Straftaten stehen. Ging es den Nafris – so der Polizeijargon für "nordafrikanische Intensivtäter", darunter gelegentlich auch einmal ein Iraker – um sexuelle Übergriffe?

Die Antwort fällt unterschiedlich aus. Fragt man Alice Schwarzer und die Journalistinnen vom Bayenturm in Köln, wo die Redaktion der Zeitschrift "Emma" sitzt, dann war dieser Tumult ein kollektiver Angriff auf die feministischen Errungenschaften der letzten Jahrzehnte. Aber wieso dauerte es fünf Tage, bis diese Geschichte erzählt werden konnte? Wieso sickerten nicht sofort Meldungen durch, und wieso kursierten keine Bilder?

Neues Sexualstrafrecht

Sind eigentlich die Gefahren für inländische Frauen, zum Opfer eines Sexualdelikts durch Flüchtlinge zu werden, gestiegen? Die Zahlen gehen trotz der Anzeigen an diesem Silvestertag zurück, nämlich kontinuierlich seit 2004 – auch nach der Flüchtlingswelle. In den polizeilichen Statistiken steigt zwar seit 2017 die Zahl der Delikte – nämlich derjenigen, die es erst seit dem neuen Sexualstrafrecht gibt: sexuelle Übergriffe (so nennt man sexuell motiviertes Grapschen). Die Gewaltdelikte nehmen dennoch ab.

Offenkundig hat dieses mediale Ereignis die Pläne für ein uferlos weites und auch noch äußerst kompliziertes neues Sexualstrafrecht befördert und wurde dementsprechend auch propagandistisch ausgenutzt. Denn die Pläne waren schon weit gediehen, aber eben noch umstritten. Nach Köln wagten nur noch sehr wenige, an der Eignung und Notwendigkeit einer derartig weitgehenden Gesetzesänderung zu zweifeln.

Ende der Willkommenskultur

Das Wort von den Hunderten von Opfern in Köln hatte aber noch einen weiteren Effekt, der nicht unterschätzt werden darf. Es beschleunigte das Ende der Willkommenskultur. Der Zeitpunkt war also günstig für ein vielstimmig hochgespieltes Drama. Daher wird im Folgenden die Geschichte aus dem Blickwinkel des 5. Jänner 2016 betrachtet. Silvester war vorbei. Noch war es still, nur 90 Strafanzeigen wegen Diebstahls, Grapschens und einer Vergewaltigung lagen vor. Eigentlich nichts Besonderes, auch wenn das Fest nicht gelungen war, weil sich niemand – außer Taschendieben – am überfüllten Hauptbahnhof wohlgefühlt hatte.

Rechnet man diese 90 Strafanzeigen auf und vergleicht sie mit den 43 Verfahren gegen 52 Beschuldigte und bedenkt, dass immerhin 32 Personen verurteilt wurden und einer darum kämpfen muss, nicht im Gefängnis zu landen, dann ist das eigentlich ein – für kriminologisch geschulte Beobachter – "normales" Bild. Das wird Sanktionstrichter genannt und beschreibt die logische Folge der Unschuldsvermutung und der Beweisschwierigkeiten, die es nun einmal gibt, wenn die Polizei derartig unorganisiert war und keine brauchbaren Videos hergestellt hat.

Vermeidbares Polizeiversagen

Fünf Tage später ergab sich jedoch bereits ein anderes Bild. Fünf Tage sind allerdings in einer Mediengesellschaft eine sehr lange Zeit. Wenn ein häufig privat gefilmtes Ereignis erst nach so langer Zeit zum medialen Ereignis und zum weltweit wahrnehmbaren Skandal wird, dann stellen sich Fragen. Warum wurde so lange mit gezielten Meldungen gezögert? Wollten die örtliche Polizei, die Bundespolizei und das Landeskriminalamt NRW ihre Planungslosigkeit und ihr Versagen unter den Teppich kehren? Benötigten diejenigen, welche aus frauenpolitischer Sicht ein Interesse daran hatten, den Neuankömmlingen deutlich zu machen, dass "Frauen kein Freiwild" sind, so viel Zeit, um eine – wie wir kriminologisch sagen – moralische Panik zu organisieren? Beide Annahmen treffen zu.

Die Versetzung des Kölner Polizeipräsidenten in den Ruhestand war eine trostlose Maßnahme, konnte aber den Medienrummel nicht stoppen. Es folgte eine Anhörung im Landtag und – ein Jahr später – ein bestens organisiertes Silvesterfest auf der Domplatte. Es geht also auch ohne Tumult. Dass 2015 die Polizei hilflos vor einem Aufruhr am Bahnhof stand, war ein vermeidbares Polizeiversagen.

Moralische Panik

Damit stellt sich die Frage, die der "Spiegel" und andere Medien bereits andeuten. Hat auch die Justiz bei der Aufarbeitung versagt? Nimmt man nur die 90 Strafanzeigen vom 5. Jänner 2016 und betrachtet den bereits erwähnten Sanktionstrichter, also die zu erwartende Verringerung der Zahlen vom Anfangsverdacht bis zur Verurteilung, dann sind keine Zweifel angebracht an der Bereitschaft der Justiz durchzugreifen. Erst die bemerkenswert hohe Zahl von 1304 Strafanzeigen nach mehr als einer Woche irritiert. Offenbar wurden im Vorgriff auf das gewünschte weite Sexualstrafrecht Belästigungen angezeigt.

Es können ja keine Zweifel darüber bestehen, dass es höchst unangenehm ist, im unübersichtlichen Kölner Hauptbahnhof einer Meute von jungen Männern zu begegnen, die ihre Narrenfreiheit bemerken und "die Sau herauslassen können". Zu enge Kontrollen und völlige Anomie befördern zum einen unangemessenes Verhalten und zum anderen Angst.

Die Folgen dieser Situation sind bekannt. Erst reagierte die deutsche Gesellschaft auf die Flüchtlinge mit naiver Euphorie, dann mit moralischer Panik und sinnlosen Debatten über den Kontrollverlust des Staates an den europäischen Grenzen. (Monika Frommel, 21.3.2019)