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Michelangelos Gemälde in der Sixtinischen Kapelle stellen einen typischen "starken Gott" dar. Brauchte es den, damit sich die ersten Hochkulturen entwickeln konnten?

Foto: Getty Images / Mondadori

Die heutigen Weltreligionen – egal ob Christentum, Islam, Judentum oder Buddhismus – haben eine Gemeinsamkeit: Götter oder übernatürliche Gesetze (wie das Karma), die den Gläubigen moralische Gebote vorschreiben. Werden diese übertreten, setzt es Strafen.

Solche moralisierenden Gottheiten sind erst relativ spät in der Menschheitsgeschichte aufgetaucht: Die Götter bei den älteren Jäger- und Sammlerkulturen etwa geben sich kaum mit den Menschen und deren Verhalten ab, sondern kreisen sehr viel mehr um das Geschehen in der Natur.

Die "Big God"-Hypothese

Bleibt die spannende religionssoziologische Frage, wann und warum die "starken Götter" mit den strengen Moralregeln entstanden sind. Seit einigen Jahren wird eine Antwort auf diese Frage heftig diskutiert. Diese sogenannte "Big God"-Hypothese geht davon aus, dass es solche strengen, moralisierenden Götter brauchte, damit sich die ersten Hochkulturen entwickeln konnten.

Während nämlich die Gruppen der Jäger und Sammler so klein sind, dass unmoralisches Verhalten anderen Gruppenmitgliedern auffallen würde, gibt es diese persönliche Kontrolle in größeren und anonymeren Gesellschaften – also etwa den ersten Städten – nicht mehr. Als Ersatz für die Sanktionierung durch die Gruppe brauchte es starke Götter, die laut der "Big God"-Hypothese komplexere Gesellschaften überhaupt erst ermöglichen würden.

Datenbank der Weisheit

Um diese Behauptung empirisch zu überprüfen, hat ein internationales und interdisziplinäres Forscherteam um Harvey Whitehouse (Universität Oxford) Informationen einer neuen Datenbank namens Seshat (benannt nach der altägyptischen Gottheit der Weisheit) ausgewertet. Konkret analysierten die Forscher die historischen Daten für 414 Kulturen in 30 verschiedenen Regionen der Erde aus den vergangenen 10.000 Jahren.

Anhand von 51 Indikatoren bestimmten die Forscher zuerst die erreichte Komplexität der jeweiligen Gesellschaft. Danach versuchten sie zu eruieren, ob die Angehörigen dieser Gesellschaften an einen moralisierenden Gott glaubten. Die im Fachblatt Nature veröffentlichten Ergebnisse brachten einige Überraschungen – und lieferten jedenfalls keine eindeutige Bestätigung der Hypothese.

Starker Gott als sozialer Kitt

In den zwölf Kulturen mit "starken Göttern" – die erste war übrigens Ägypten mit Maat vor 4800 Jahren – bildeten sich diese Religionen erst dann heraus, wenn eine Kultur die Schwelle zur komplexen Gesellschaft mit mehr als einer Million Menschen schon überschritten hatte. Sprich: Moralisierende Götter gingen dem Entstehen komplexer Gesellschaften nicht voran, sondern traten erst rund hundert Jahre später auf.

Die Forscher vermuten deshalb, dass "starke Götter" quasi als sozialer Kitt dienten, um komplexe, oft multiethnische Gesellschaften auf Dauer zusammenzuhalten. Einen gemeinsamen Faktor gab es bei vielen Gesellschaften freilich schon vor dem Sprung zur Hochkultur: gemeinsame religiöse Rituale. Laut Whitehouse und Kollegen könnten diese eine wichtige Vorstufe für die moralisierenden Religionen gewesen sein. (Klaus Taschwer, 22.3.2019)