Das Neckartor ist Stuttgarts Problemzone. Der Abschnitt ist vielbefahren und feinstaubtechnisch als dreckigste Kreuzung Deutschlands bekannt.

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Wer zum ersten Mal hier ist, wundert sich: Über den Köpfen verlaufen blaue Rohrleitungen, an fast jeder Ecke wird gebaut. Wer mit dem Auto unterwegs ist – und das sind die meisten hier –, für den ist die Stadt wie ein Labyrinth, das nur Kenner befahren können, die wissen, wo die Straßen gerade frei sind, die Stau-Wahrscheinlichkeit am geringsten ist. Die Rede ist von Stuttgart, Hauptstadt des deutschen Bundeslands Baden-Württemberg.

Sparsam, arbeitswillig und autoverliebt – dafür sind die "Schwaben" bekannt. Letzteres ist kein Wunder, lebt die Region doch von der Autoindustrie. Die jahrzehntelange Vorherrschaft des Autos in der Stadtplanung und ein umstrittenes Bahnhofsgroßprojekt, das seit Jahren Baustellen verursacht, haben der Stadt den unehrenhaften Titel Stauhauptstadt eingebracht. Die blauen Rohre transportieren übrigens Grundwasser aus der Stuttgart-21-Baugrube.

Auf und ab

Noch dazu liegt die Stadt in einem Talkessel. Es geht ständig auf und ab, "die Topografie ist schwierig", sagt Architekt Thomas Herrmann, Mitglied im Städtebauausschuss der Stadt. Ein Argument, das von Radverkehrsgegnern oft verwendet wird, weiß Thijs Lucas. Er arbeitet für die Autoindustrie, engagiert sich aber für mehr Radverkehr. "Nicht jeder wohnt auf einem Hang, und dennoch wird hier nicht einmal der Weg zum Bäcker mit dem Rad gefahren." Selbst in der Ebene gebe es keine Radwege, "weil die Stadt sich jahrelang nicht dafür eingesetzt hat." Laut Zahlen von 2017 fahren in Stuttgart nur fünf Prozent der Bewohner mit dem Rad und 24 Prozent mit den Öffis. Zum Vergleich: In München sind es 17 bzw. 23, in Wien sieben bzw. 38 Prozent. Mit dem Auto sind in Wien 27 Prozent unterwegs, in München 32, in Stuttgart 45 Prozent.

Dazu kommt, so Herrmann: In Stuttgart ist nicht viel Platz, die Strukturen sind kleinteilig. Die Sparsamkeit der Schwaben habe dazu geführt, dass die Straßen eng gebaut wurden. "Wenn es Längsparker gibt, bleibt für Fahrbahn, Rad- und Gehwege nicht viel Luft, für Bäume schon gar nicht."

Stich ins Herz

Werden dem Auto Flächen weggenommen, um sie für Radfahrer und Fußgänger umzuwidmen, ist es für den Schwaben wie ein Stich ins Herz. "Jeder Stellplatz, der wegfällt, sorgt für einen Aufschrei", erzählt Lucas. Stuttgart ist die Heimatstadt von Daimler und Porsche, "die Stadt ist das Auto", bringt es der Architekt auf den Punkt. Er versteht nicht, warum viele Stuttgarter so uneinsichtig sind: "Wird den anderen Verkehrsteilnehmern mehr Platz gegeben, stehen am Ende auch die Autofahrer besser da, weil sie mehr Platz bekommen. Dann fahren nur mehr die, die auch fahren müssen." Doch erst etwas abgeben, um später etwas zu bekommen – für viele sei das ein zu langer Gedankengang, meint er.

Die Dominanz des Autos bis in die obersten Kreise der Stadtplanung sieht man laut Lucas auch an neuen Wohnprojekten: "Werden Wohnungen gebaut, wird erst spät darüber nachgedacht, wie sie mit Radwegen erschlossen oder an den öffentlichen Verkehr angebunden werden können. Von Anfang an steht hingegen fest, welche Straßen hinführen und um wie viele Kilometer die Autobahn verlängert wird."

Herrmann relativiert: Dass die "miserablen" S-Bahn-Anbindungen verbessert werden müssen, sei Konsens in Verwaltung und Planung. Das Problem sei vielmehr, dass Projekte objektweise diskutiert und nicht in einem größeren Zusammenhang mit Verkehrsnetzen gesehen werden. "Über das Nachdenken zur Anzahl der Tiefgaragenplätze geht es oft nicht hinaus." Ein Stellplatz pro Wohnung ist bisher Vorschrift, dieses Regulativ steht aktuell aber zur Diskussion.

Große Vorsicht

Herrmann kennt noch ein Problem, das Nachverdichtung und Stadterweiterung erschwert: "Es gibt viele prestigeträchtige Wohnlagen mit vielen solventen und selbstbewussten Menschen, die keine neuen Bewohner in ihrer Nähe haben wollen."

Und welche Mächte beeinflussen die Stadtplanung noch? Die Autoindustrie sei es nicht, zumindest gebe es keine konkreten Hinweise darauf, sagt Herrmann, gesteht aber ein: "Bei den politisch Verantwortlichen gibt es eine große Vorsicht im Umgang mit der Industrie, weil man weiß, wie wichtig sie für die Region ist."

Autofahren als Grundrecht

Neben jenen Stuttgartern, die Autofahren als ein Grundrecht ansehen und der Meinung sind, ohne Autoverkehr gehe die Wirtschaft zugrunde, gibt es auch jene, die gerne auf den motorisierten Individualverkehr verzichten würden, es aber rational gesehen nicht können. "Rechnet man aus, wo man am meisten Geld und Lebenszeit spart, ist man mit dem Auto ganz oft am besten dran", sagt Lucas und erzählt von seinem eigenen Arbeitsweg: 32 Kilometer fährt er täglich über die Autobahn in die Arbeit. Mit den Öffis wären es 55 Kilometer und eine deutlich längere Fahrzeit. Pendeln ist umständlich und teuer, ebenso wie Wohnen. "In Stuttgart sucht man sich einen Job, der näher an der Wohnung ist, und nicht umgekehrt", sagt Lucas.

Was übrigens noch ins autofreundliche System passt: Abgeschleppt werden ist in Stuttgart sehr unwahrscheinlich, weil die Abteilung für öffentliche Ordnung stark unterbesetzt ist, kritisiert Lucas. "Viele, die auf die lange Parkplatzsuche verzichten wollen, parken deshalb einfach am Gehsteig." Wer dabei erwischt wird, zahlt höchstens 30 Euro. (Bernadette Redl aus Stuttgart, 24.3.2019)