Bis zu zwei Stunden kann das Masernvirus in der Luft überleben. Zwei Stunden, nachdem ein Infizierter gehustet oder geniest hat, haben die Viren die Fähigkeit, weitere Menschen anzustecken. Dagegen hilft eine Impfung, die aus zwei Dosen besteht. Während sich in Europa und der westlichen Welt viele Eltern dagegen wehren, ihre Kinder zu immunisieren, kämpfen in Madagaskar Mütter und Väter um das Leben ihrer Kleinen.

Denn seit Oktober des Vorjahrs sind bereits mehr als 1000 Menschen an den Masern gestorben. Die rettende Impfung ist für viele Madagassen aber nicht leistbar. Zwar ist die erste Dosis kostenlos, doch bleibt die zweite Dosis zum Preis von 15 US-Dollar (13 Euro) für viele unerschwinglich. Denn mehr als 90 Prozent der Bevölkerung des afrikanischen Inselstaats leben von weniger als drei Dollar (2,7 Euro) am Tag.

Selbst wenn sich alle Madagassen die zweite Masernimpfung leisten könnten, würde es nicht genügend Dosen für alle im Land geben.
Foto: Mamyrael / AFP

Zwei Drittel ungeimpft

Selbst wenn sie sich die Dosen leisten könnten, wäre es den Behörden unmöglich, alle Kinder zu immunisieren. Es gibt nämlich schlicht und einfach zu wenig Impfdosen im Land. Nehmen Eltern den teilweise stundenlangen Marsch in die nächste medizinische Einrichtung auf sich, so befinden sich oft keine Ärzte vor Ort. Laut der Weltgesundheitsorganisation WHO müssten 95 Prozent aller Menschen geimpft werden, um die Ausbreitung des Virus zu stoppen. Ein für Madagaskar utopischer Wert, denn zwei Drittel der Kinder sind nicht geimpft.

Nicht nur die Masern sind eine Gefahr für die Kinder Madagaskars. In dem Land östlich von Mosambik werden auch Minderjährige für geringe Vergehen in Untersuchungshaft gesteckt. Das kritisiert die Menschenrechtsorganisation Amnesty International in einem Bericht. Kinder sitzen mehr als zwei Jahre in Haft, weil die Behörden sie etwa beschuldigen, Nahrungsmittel gestohlen zu haben – und das ohne Verurteilung.

Madagaskar liegt östlich von Mosambik im Indischen Ozean.
Grafik: Standard

Dem System ausgeliefert

"Wenn sich die Leute keinen Anwalt leisten können, dann sind sie dem System ausgeliefert", sagt Tamara Léger von Amnesty Madagaskar im Gespräch mit dem STANDARD. Die Verhältnisse in den Gefängnissen seien untragbar. Die meisten seien überfüllt, und es gebe zu wenig Nahrungsmittel und Medikamente. "Ich war schockiert", sagt Léger.

In der Haftanstalt Manakara im Osten der Insel befanden sich im September des Vorjahrs rund 700 Insassen, obwohl die Unterbringung für lediglich 121 Personen konzipiert ist. Allein im Jahr 2017 starben 129 Menschen in Haft, davon 52 in Untersuchungshaft. Doch nicht nur Kinder und Jugendliche müssen unverhältnismäßig lang ins Gefängnis: Ein Mann saß laut Léger dreieinhalb Jahre ohne Prozess hinter Gittern, weil er Vieh gestohlen haben soll. Landesweit sitzen rund 11.000 Menschen in Untersuchungshaft.

Stigma nach Entlassung

Auch wenn sie noch nicht schuldig gesprochen sind, haftet den Menschen im Gefängnis und nach ihrer Freilassung ein Stigma an. Léger erzählt von einem 18-Jährigen namens Martin, den sie im Zuge ihrer Recherchen getroffen hat. Er verbrachte ein Jahr in Untersuchungshaft. Vorgeworfen wurden ihm Diebstahl und Landstreicherei.

Nach seiner Freilassung konnte er nicht mehr in seinen Heimatort zurückgehen. Seine Tante, die engste Angehörige, sagte der Amnesty-Mitarbeiterin, dass sie ihn nicht nach Hause kommen lasse. Sie habe den Menschen im Dorf nicht einmal erzählt, wo er sich im vergangenen Jahr befunden habe. Zu groß sei die Angst vor sozialer Ausgrenzung gewesen.

Der Klimawandel führt auch zu ausgedehnten Dürreperioden auf der Insel.
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An der Front gegen Klimawandel

Warum Madagaskar immer wieder auf den Rankings von Hilfsorganisationen zu vernachlässigten Krisen landet, hängt mit der exponierten Lage im Indischen Ozean zusammen. Im Bericht von "Care" schreiben die Autoren von der "vordersten Front gegen den Klimawandel". Dessen Auswirkungen lassen die Stürme, die häufig auf den Inselstaat treffen, immer stärker werden. Die steigenden Temperaturen haben außerdem zur Folge, dass Regen nicht mehr regelmäßig fällt und es in Teilen des Landes zu schweren Dürrezeiten kommt. USAID schätzt, dass dadurch in den vergangenen drei Jahren im Westen der Insel bis zu 80 Prozent der Reisernte vernichtet wurden.

Laut dem jüngsten "Klima-Risiko-Index" der deutschen NGO Germanwatch lag Madagaskar im Jahr 2017 auf Rang sieben. Ein Jahr davor belegte der Inselstaat noch den 58. Platz. Mit dem Bericht wollen die Autoren auf die Auswirkungen von Extremwetterereignissen auf Länder aufmerksam machen. Vor allem Nationen mit wenigen Mitteln sind am stärksten vom Klimawandel betroffen, so eine der Schlussfolgerungen des Index.

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Überflutungen und Stürme werden in Zukunft in Madagaskar heftiger werden.
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Fluten und Erdrutsche

"Madagaskar wird die Herausforderungen nicht alleine schaffen", sagt David Eckstein von Germanwatch im Gespräch mit dem STANDARD. Durch den steigenden Meeresspiegel würden Sturmfluten künftig heftiger ausfallen. Dadurch, dass die wärmere Wasseroberfläche leichter verdampfe, bilde sich zudem mehr Regen, der zu Überschwemmungen und Erdrutschen führe, sagt Eckstein. Zwar gebe es bereits globale Initiativen hin zu Risikofonds, die im Katastrophenfall schnell angezapft werden könnten, doch müssten die westlichen Staaten ihre Hilfsbereitschaft stärker zeigen.

In Gefahr ist in Madagaskar nicht nur die Bevölkerung, sondern auch die Tierwelt. Der Inselstaat hat die drittgrößte Biodiversität der Erde. Nur Brasilien und Indonesien können eine größere Vielfalt aufweisen. Doch von den 113 Lemurenarten, die nur auf Madagaskar vorkommen, sind fast alle vom Aussterben bedroht.

Rodungen für Saphire

Grund dafür ist der illegale Holz- und Saphirhandel, der die Urwälder der Insel verschwinden lässt. Seit der Entdeckung des Edelsteins auf der Insel haben zehntausende Madagassen Bäume gerodet und Bäche umgeleitet, um nach den Saphiren zu suchen, die ihnen aus der Armut helfen würden. Die Weltbank schätzt, dass etwa im Jahr 1999 hunderte Millionen US-Dollar in Form der Edelsteine außer Landes geschmuggelt wurden.

Auch mit der Wahl des neuen, alten Präsidenten Andry Rajoelina dürften sich die Probleme des Inselstaats nicht lösen. Er war nach einem Militärcoup bereits in den Jahren 2009 bis 2014 De-facto-Präsident. Die Bevölkerung warf seiner Regierung vor, korrupt zu sein und sich vor allem an den natürlichen Ressourcen des Landes zu bereichern. Tamara Léger von Amnesty will ihn aber dennoch nicht verdammen: "Er hat nun die Möglichkeit, der Welt zu zeigen, dass er Menschenrechte zur Priorität macht." Davon will sie Rajoelina auch gerne selbst überzeugen. Einem Termin hat der Präsident aber noch nicht zugestimmt. (Bianca Blei, 23.3.2019)