Für mutmaßliche Missbrauchsopfer der Gipfel des Zynismus: Michael Jackson in Pose des Erzengels Michael auf einem Bild von David LaChapelle. Der Fotograf idealisierte Jackson in einem Triptychon.

Foto: David LaChapelle

Luftblasen blubbern im trüben Wasser. Ein Augenpaar ringt in dem Aquarium nach Sicht. Wo ist das dazugehörige Gesicht geblieben? Was ist noch von ihm übrig nach den unzähligen Operationen, die es zu einer Maske erstarren ließen? Neverland nennt Jordan Wolfson seine Videoarbeit, die jetzt in der umstrittenen Ausstellung Michael Jackson: On The Wall in der Bonner Bundeskunsthalle zu sehen ist. Sie nimmt Bezug auf den TV-Auftritt des US-Popstars von 1993, als er auf seiner Neverland Ranch live schwor, sich niemals an Kindern vergangen zu haben.

Trotzdem zahlte er noch im selben Jahr eine Millionenabfindung an die Familie eines 13-Jährigen. Das doppelbödige "Videoporträt" entstand 2006. 13 Jahre später stehen erneut Vorwürfe im Raum. Mit dem Unterschied, dass sich Jackson zu der HBO-Doku Leaving Neverland nicht mehr äußern kann. Darin berichten zwei Männer, sie seien als Kinder von dem 2009 verstorbenen Idol wiederholt missbraucht worden.

Ächtung einer Ikone

Erstmalig gezeigt wurde der Film Ende Jänner beim Sundance Film Festival. Seitdem nahmen nicht nur Radiosender in Kanada, den Niederlanden und Neuseeland Songs aus dem Programm. Virgil Abloh, Kreativchef des französischen Modehauses Louis Vuitton, entfernte von Jackson inspirierte Entwürfe aus seiner zweiten Kollektion. Die Macher der Zeichentrickserie Simpsons verbannten eine Folge von 1991 ins Archiv, in der sich ein Patient einer psychiatrischen Klinik als Michael Jackson ausgibt. Das Pikante: Jackson persönlich lieh damals der Figur seine Stimme.

Die Maßnahmen erinnern an den Umgang mit ähnlichen Fällen in den USA. Amazon sagte einen Deal mit Woody Allen über die Produktion von vier Spielfilmen ab, als erneut Missbrauchsvorwürfe aufkamen. Kevin Spacey verlor wegen des Verdachts sexueller Übergriffe seine Rolle in der Serie House of Cards und wurde von Ridley Scott aus dem Film Alles Geld der Welt rausgeschnitten. Geholfen hat beiden trotz fehlender Verurteilung die Unschuldsvermutung nicht.

Dass auch im Fall von Jackson ein Imagewandel posthum längst im Gange ist, beweist die schwierige Suche nach einem Käufer des in Sycamore Valley Ranch umbenannten Neverland-Geländes. Kein Wunder also, dass nach unbeanstandeten Stationen in der Londoner National Portrait Gallery und im Pariser Grand Palais in Deutschland der Druck auf die Ausstellung gewachsen ist, zumal am 6. April die Doku auf ProSieben gezeigt werden soll.

Auseinandersetzung vs. Auslöschung

Die Tageszeitung Die Welt fragte: "Ist Michael Jackson wirklich der Künstler für das Jahr 2019 in der Bundeskunsthalle?" Und weiter: "Welche Botschaft will die Bundeskunsthalle senden?" Auf keinen Fall wolle man sich als Richter aufspielen, sagte Rein Wolfs, Intendant der Bundesinstitution, vor der Eröffnung. "Gerade jetzt nach Bekanntwerden neuer Missbrauchsvorwürfe ist es wichtig, sich mit dem King of Pop auseinanderzusetzen, statt eine kulturelle Erinnerung einfach auszulöschen", verteidigte er das bereits vor zwei Jahren initiierte Projekt.

Es handle sich zudem um keine Hommage, sondern um eine rezeptionsästhetische Schau, die das Phänomen der ersten Ikone des medialen Zeitalters aus der Perspektive von Künstlern beleuchte. Darunter immerhin Künstlerschwergewichte wie Andy Warhol oder Isa Genzken. Dass sich die Mehrheit von ihnen als Fan mit Faible für den Personenkult outet, ist für Wolfs inzwischen dennoch zum Problem geworden, weswegen er das eine oder andere kritische Werk hinzugenommen hat, etwa Paul McCarthys wenig schmeichelhafte Skulptur Michael Jackson and Bubbles von 1999, die sich in ihrer Protzigkeit und grotesken Verzerrung nur als satirische Replik auf Jeff Koons' Original deuten lässt.

Oder Pamela Rosenkranzs Videoinstallation No One eines verängstigt den Betrachter fixierenden Jackson, dessen Gesichtszüge sich mittels einer Computeranimation nur minimal ändern. Die ungewohnt nah gehende Konfrontation lässt den Mythos vergessen. Es bleibt eine gequälte Psyche zurück, deren Dämonen man gar nicht erst kennen möchte.

Diskussionsangebot

Der jede Idolatrie verweigernde Blickwinkel ist auch bitter nötig angesichts unzähliger Erlöserposen und eines ganzen Raums, der sich der Heiligenverehrung durch David LaChapelle widmet. Der Fotograf stilisierte Jackson kurz nach dessen Tod in einem Triptychon zum American Jesus entlang einer religiösen Ikonografie, die heute angesichts des Pädophilieverdachts mehr als befremdlich wirkt.

Die Gefahr von bevorstehenden Irritationen hat natürlich auch Wolfs erkannt. "Der Fokus liegt heute auf Machtmissbrauch, sexuellem Missbrauch und #MeToo. Das sind neue moralische Maßstäbe, die wir ernst nehmen müssen", so der Intendant. Geschulte Vermittler sollen in der Ausstellung deshalb verunsicherten Besuchern ein Gespräch anbieten. Denn die Chance der Ausstellung bestehe gerade darin, als Plattform für eine breite Debatte zu fungieren. Nicht zuletzt mit einer Diskussion einen Tag nach Ausstrahlung der brisanten Doku. Titel: "Anbetung, Macht, Missbrauch. Eine gesellschaftliche Kontroverse im Fokus". (Alexandra Wach, 26.3.2019)