Am 7. April fällt bei der Reichsbrücke der Startschuss zum 36. Vienna City Marathon. Der erste fand am 25. März 1984 statt, hieß "Wiener Frühlingsmarathon" und führte dreimal um den Ring, in den Prater und zurück. Seit 1988 ist der ehemalige Leichtathlet Wolfgang Konrad das Mastermind des Laufes. Seit 1991 ist er mit seiner Enterprise Sport Promotion GmbH auch Veranstalter des Vienna City Marathon.

Mit rund 40.000 Läuferinnen und Läufern, die an Marathon, Halbmarathon, Staffel, 10-Kilometer-Lauf und diverse Kinderläufe teilnehmen, ist der VCM eines der größten, wenn nicht das größte Volkslaufereignis im CEE-Raum. Im Marathon-Interview erzählt Marathon-Macher Konrad gemeinsam mit VCM-Pressechef Andreas Maier und VCM-Geschäftsführer und -Organisationsleiter Gerhard Wehr über Anfänge und Aufregung, die Schönheit eines Sportes, der keine Infrastrukturbauten oder Stadien braucht, von Abkürzern und Startblock-Hoppern, von den Tücken des Startsackerlkults und vom diskreten Athletensponsoring – aber vor allem über eines: die erfolgreichste Straßenparty der Stadt.

Gerhard Wehr, Andreas Maier und Wolfgang Konrad (v. li.).
Foto: thomas rottenberg

STANDARD: Herr Konrad, wann und wie begann Ihre VCM-Geschichte?

Wolfgang Konrad: Ich wurde vom damaligen Veranstalter, dem Kongresscenter in der Hofburg, 1988 an Bord geholt. Die sahen den touristischen Nutzen – und genau das war ja auch der politische Wille hinter dem "Frühjahrsmarathon": Der damalige Sportstadtrat Mrkvicka hatte das Potenzial erkannt. Den Marathon gab es da schon fünf Jahre. 1991 wollte die Hofburg aufgeben – da gab es einen Gap zwischen Einnahmen und Ausgaben. Ich habe aber an das Produkt geglaubt. Und gesagt: Das wäre superschade. Wenn man das anders aufzieht, kann es funktionieren.

STANDARD: Sie stammen aus Tirol. Und Sie sagten unlängst selbst, dass man in Tirol früher Skifahrer wurde, wenn man Profisportler werden wollte.

Konrad: Wenn du damals was mit Sport machen wolltest, war das Skirennfahren. Aber in meinem Elternhaus war das finanziell halt nicht möglich. Ich habe deshalb mit dem Laufen begonnen – und da wurde recht schnell ein gewisses Talent erkannt. Also wurde ich Läufer: Laufen kostet ja nix. Ein paar Laufschuhe, eine Hose, daran hat sich nix geändert. Aber wenn du damals gesagt hast, dass du ein Läufer bist, dann warst du ein Depp.

STANDARD: Hat sich an dieser Wertigkeit etwas geändert?

Konrad: Absolut. Früher haben sie dir höhnisch nachgeschrien. Das gibt es nimmer. Laufen ist heute zeitgeistig. Es ist gesellschaftsfähig. Niemand wird mehr als Spinner bezeichnet. Trotzdem: Dort, wo Skifahren steht, wird Laufen in der Wertigkeit nie sein. Wir sind ein Tourismusland – da ist der Skisport ein wesentlicher Identifikationsfaktor.

STANDARD: Zurück zum VCM. Den haben Sie im Jahr 1991 übernommen – obwohl der damalige Veranstalter keine Zukunft sah. Wieso?

Konrad: Weil ich dran geglaubt habe. Weil ich sicher war, dass aus dem Bestehenden etwas Großes werden könnte.

Foto: Copyright VCM Archiv

STANDARD: Groß ist er, der VCM. 1984 kamen 779 Läufer und 25 Läuferinnen ins Ziel. Heute melden sich in allen Bewerben rund 40.000 Personen an. Ist das noch der gleiche Event? Das gleiche Gefühl? Die gleiche Aufregung?

Konrad: Klar, die Aufregung ist nicht mehr so groß. 1991 waren wir eine Zwei- oder Drei-Mann-Show. Vor 19 Jahren ist Gerhard Wehr dazugekommen. Da wurde es leichter. Weil man sich die Verantwortung teilt. Das Team wird größer. Mittlerweile sind wir elf Menschen, die das ganze Jahr über dran arbeiten. Natürlich wird man irgendwann auch entspannter: Früher war das nervenaufreibender. Aber auch heute ist das ein wundervolles Gefühl, wenn man am Start steht, und da sind zigtausend Menschen. Und du weißt: Die sind alle da, weil wir etwas machen, was sie begeistert. Wir haben monatelang geplant. Gezeichnet. Skizziert. Geschrieben – und dann wird daraus etwas Dreidimensionales. Dann steht das da. Und dann kommen die Leute! Da wird's dreimensional emotional. Ja, darauf bin ich, darauf sind wir stolz.

STANDARD: Wie viele Menschen sind denn in dieses "Theater der Emotionen" involviert?

Gerhard Wehr: Das kann man schwer sagen. 2.500? 3.000? Das ist auch immer die Frage, wen man dazurechnet. Wo ist die Abgrenzung? Es werden aber so um die 2.500 bis 3.000 Menschen am Marathontag sein: Polizei, ORF, Stewards – das genau einzugrenzen ist schwer.

STANDARD: Die Wirtschafts- und Tourismuszahlen werden alle Jahre wieder kommuniziert. Am Rande erwähnt wird da auch, dass der Marathontag der Tag mit der saubersten Luft in Wien sei. Urban Legend oder Fakt?

Andreas Maier: An einigen Messstellen ist, abhängig von den Witterungsbedingungen, ein deutlicher Rückgang der Schadstoffkonzentrationen zu erkennen, wie uns Experten der ZAMG sagen. Vor gut 20 Jahren hat der VCÖ einen "Umweltpreis" an die letzten Marathonfinisher vergeben, weil diese einen Beitrag zur Verbesserung der Luftqualität geleistet haben. Es liegt auf der Hand, dass am Marathontag in Wien weniger Auto gefahren wird als sonst. Dadurch gibt es weniger Emissionen.

STANDARD: Und das sehen auch alle Autofahrer und ihre Lobby ein …

Konrad: Zu Beginn war es ein Riesenthema, dass der Verkehr da eingeschränkt wird. Das Auto hatte einen ganz anderen Stellenwert, und es waren ja nur die Verrückten, die gelaufen sind. Natürlich waren die Kommunikationsmöglichkeiten anders, und natürlich haben auch wir dazugelernt. Wesentlich beigetragen hat die Live-Übertragung: Man hat gesehen, was los ist. Aber heute ist das gar kein Thema mehr.

Autofrei für einige Stunden.
Foto: apa/hochmuth

Wehr: Wir reden ja nicht von Behinderung. Die Mobilität ist an diesem Tag einfach anders: Jeder Punkt der Stadt ist erreichbar – sogar die Innenstadt. Nur anders.

Konrad: Die Marathonstrecke hat sich ja auch verändert. Die wurde nicht 1984 festgelegt und blieb dann so. Das ist eine Entwicklung, ein Lernprozess über 35 Jahre – auch mit der Behörde, der Polizei.

Wehr: Wir müssen gleichzeitig darauf schauen, eine schöne Strecke zu haben. Wir bedienen die klassischen Wiener Klischees, mit Schönbrunn und Secession und wie sie alle heißen: Die Strecke ist ein Museumsbesuch in kurzen Hosen. Diesen Mix aus Mobilität, Bedürfnissen der Anrainer und Strecke müssen wir punktgenau treffen. Und ich glaube, das ist derzeit ganz gut erfüllt.

STANDARD: Wie sah denn die erste Route aus?

Konrad: Ich weiß gar nicht, ob wir die noch haben. Das ist vermutlich in uralte Steinplatten eingraviert worden.

Maier: Ich kann schon sagen, wie das war.

Konrad: Du weißt das noch?

Maier: Man kann es nachlesen, das war eine 14-Kilometer-Runde, die dreimal durchlaufen worden ist. Start war am Rathausplatz, und dann ging es den Ring runter zum Donaukanal in den Prater. Dann zum Lusthaus und retour über den dritten Bezirk.

STANDARD: Große Volksläufe leben vom Mix aus Breiten- und Spitzensport. Wie schafft man da die Balance?

Konrad: Das ist kein Widerspruch: Man braucht beides. Spitze gehört dazu. Spitze mobilisiert. Zuerst Medien. Die mobilisieren dann Teilnehmer. Das ist unser Schwungrad: Teilnehmer mobilisieren Sponsoren – und mit der Summe aus alledem kann man wieder mehr und bessere Athleten mobilisieren. Mit denen wieder mehr Teilnehmer. Wir haben nie diese Spitzenathleten am Start wie London oder Berlin – das schaffen wir finanziell nicht –, aber wir zeigen, wie es funktionieren könnte. Wir zeigen, was medial passiert, wenn man einen Haile Gebrselassie nach Wien holt.

STANDARD: Gebrselassie lief hier 2011, 2012 und 2013 – und schwärmt immer noch von Wien!

Haile Gebrselassie im Jahr 2011.
Foto: VCM Andrew Mc Clanahan

Konrad: Mit ihm haben wir gemerkt, was es heißt, wenn internationale Medien aufspringen: Mit Haile Gebrselassie kommst du international an. Wenn man dann noch eine spezielle Inszenierung macht, geht das durch die Decke. Es war uns klar, dass es uninteressant ist, ob der Haile in Wien einen Halbmarathon läuft oder nicht. Wir brauchten eine Geschichte. Wir haben mit "Catch me if you can" genau das getan: eine Geschichte erzählt, die es bis dahin nicht gab. Wir haben uns ausgerechnet, wann Haile loslaufen müsste, um die Marathonspitze bis zum Halbmarathonfinish einzuholen. Und das haben wir im Jahr darauf mit ihm und Paula Radcliffe noch getoppt: Das war der Beweis, dass dieses Schwungrad funktioniert. Das ist die eine Geschichte. Die andere ist, dass wir 364 Tage im Jahr drüber nachdenken, einen Marathon auch zu inszenieren: Wie bieten wir einen Event, der etwas Besonderes ist?

STANDARD: Das tun die Mitbewerber aber auch: Heute hat fast jede Stadt ihren Marathon. Warum eigentlich?

Konrad: Laufen ist eben weltweit Thema. Laufen ist einfach. Es braucht keine Infrastruktur-Maßnahmen. Laufen ist Zeitgeist, und Laufen ist überall möglich. Auch in Städten: Die Straßen gibt es ja – und Laufen, das ist wichtig, ist ein Geschäft. Für jede Stadt. Laufen geht sogar im Zentrum. Das Tolle an der Infrastruktur fürs Laufen ist, dass man sie nicht erschaffen muss, weil alles da ist. Gerade Wien, auch ohne Veranstaltungen: Wir haben den Prater. Die Insel. Die Parks. Die Gärten. Wir können überall und jederzeit loslaufen – das ist das Geniale: Ich brauche kein Stadion. Gar nichts.

Ich habe das mit der Infrastruktur, die nicht erst geschaffen werden muss, aber weit größer gemeint. Wenn man sich heute die olympische Bewegung anschaut, muss man eines feststellen: Da geht nichts mehr. Deutschland? Abgelehnt. Österreich? Abgelehnt. Schweiz? Abgelehnt. Fußball-WM oder -EM: Das ist kaum finanzierbar. Österreich und Schweiz sind sich grad noch ausgegangen. Oder wir gehen in Diktaturen, weil sich die Menschen in der westlichen Welt querlegen. Das ist für den Sport eine Gefahr: Der Gegenwind wird stärker. Die Welt hat enorme Umweltprobleme, aber für Großevents muss man gewaltige Stadien aufstellen, die danach verfallen. Für Ski-Weltmeisterschaften werden ganze Berge verschoben. Wo geht denn das hin? Auch jetzt in Seefeld hat man gewaltige Schneisen in den Wald hineingeschlagen. Jetzt ist die WM vorbei, aber die Bäume kann man nicht wieder aufstellen. Das sind gewaltige Probleme, und sie werden größer.

Da stehen wir mit unserer Sportart sehr gut da: Laufen kann man immer und überall, und all diese Dinge sind beim Marathonsport nicht notwendig.

Wien-Marathon 2018.
Foto: apa/afp/klamar

STANDARD: Hat ein Stadtmarathon auch Auswirkungen auf das Gesundheits- und Sportbewusstsein jener, die nicht mitlaufen?

Konrad: Die Vorbildwirkung ist da, ganz klar. Sonst hätte sich das ja nicht alles weiterentwickelt: Es gibt ja nicht nur den Wien-Marathon, sondern auch Linz oder Salzburg, Graz und etliche andere Formate. Das Bewusstsein ist anders geworden: zum Umgang mit dem Körper – und damit zum Sport.

Maier: Die Sichtbarkeit hat viel geändert: Du siehst heute überall Menschen, die Sport machen. Man sagt nicht mehr: "Der Depp!" Die Botschaft lautet: "Das könnte ich auch machen." Sichtbarkeit hebt die Popularität von Bewegung als Teil der eigenen Gesundheitsvorsorge.

STANDARD: Sie wissen es eh: Ich habe zum VCM eine Hassliebe. Nicht zuletzt wegen Themen wie der Startblockdisziplin. In Berlin oder New York komme ich gar nicht oder nur sehr schwer in einen falschen Startblock. Beim Frauenlauf in Wien wird man disqualifiziert, wenn der Chip im Zeitfenster eines falschen Startblocks über die Startmatte geht. In Köln bekommen Falschstarter eine Fünf-Minuten-Strafe auf die Zeit aufgeschlagen – technisch kein Problem. Aber in Wien startet jeder dort, wo er oder sie grad lustig ist. Wieso?

Konrad: Ich kenne Ihre Kritik, Sie äußern sie seit Jahren. Aber wir reden hier und heute das erste Mal face to face drüber. Das möchte ich schon festhalten. Aber zur Sache: Ja, wir wissen das. Aber wir haben da eine andere Meinung. Wir glauben an die Eigenverantwortung: Wir organisieren den Lauf und stellen dafür die Plattform zur Verfügung. So, dass es für jeden verständlich wäre, wo er sich hinzustellen hat. Wenn es die Leute nicht tun, dann haben dieses Problem die Läufer und nicht wir als Veranstalter verursacht.

STANDARD: Aber was kann ein disziplinierter Läufer dafür, dass ein undisziplinierter ...

Konrad: Wenn in einem VW Käfer fünf Leute vorn sitzen wollen, ist das nicht die Schuld vom VW Käfer, wenn die dort nicht alle Platz haben.

Wehr: Auch in Berlin, Frankfurt und Köln wird geschummelt und über Gitter gesprungen. Wenn man das wirklich sanktionieren will, dann geht das nur so wie in Rom. Da bin ich 2006 gelaufen. Da waren überall hohe Gitter und Absperrungen. Es gab strenge Regeln – und nachher wird gestraft und disqualifiziert. Aber: Das sind nicht wir! Wir wollen die Eigenverantwortung mobilisieren. Dazu kommt, dass unser Startgelände sehr speziell ist: Wir haben genau von 6.30 bis 8 Uhr Zeit, das Startgelände vorzubereiten. Weil die Wagramer Straße eine der wichtigsten Einfahrtstraßen in die Stadt ist.

Ich kann dort nicht infrastrukturell agieren wie in anderen Startgeländen. Mittlerweile sind wir so weit, dass schon Gitter stehen, früher waren das nur Netze. Das ist ja auch immer ein Sicherheitsthema: Wenn ich Leute zusammenpferche, muss das so mobil sein, dass man bei Notfällen eingreifen kann. Und auch in Berlin gilt: Ab einem gewissen Zeitpunkt sind sie nicht mehr in der Lage, alles zu kanalisieren. Wenn den Leuten kalt ist und sie wissen, der Start ist um neun Uhr, gehen sie nicht um halb neun in den Startblock, sondern schmeißen die Jacke in letzter Sekunde in den Lkw. Das machen 15.000 gleichzeitig – und der Security, der den Eingang bewacht, soll das allein regeln? Wir können natürlich so viele Securitys hinstellen, dass nur der reinkommt, der reinkommen soll – aber dann starten wir nicht vor halb elf.

Startblock in Chicago.
Foto: thomas rottenberg

STANDARD: Aber das Ausmaß in Wien ist ein anderes als in Städten mit strikteren Kontrollen.

Konrad: Nein, es halten sich überall viele nicht daran. Es fällt Ihnen aber eben speziell in Wien auf. Schauen Sie sich den Staffelmarathon an: eine innovative Idee, die es Leuten ermöglicht, an einer großen Veranstaltung teilzunehmen, die sonst nicht in der Lage wären, einen Marathon oder Halbmarathon zu laufen. Das ist doch positiv! Und wer hält sich nicht an die Startaufstellung? Manche Topathleten. Also disqualifizieren wir sie und lesen beim Sportombudsmann am nächsten Tag, wie böse wir sind. Das sind Beispiele aus der Vergangenheit. Also was sollen wir tun? Stellen Sie sich mal vor, was passiert, wenn wir das bei allen machen!

Wehr: Das Problem haben wir ja auch beim Lusthaus: Dort haben wir eine Kontrollmatte. Da schauen wir uns das Ergebnis schon an, wenn etwas nimmer plausibel ist. Etwa weil jemand den zweiten Teil der Strecke schneller läuft als der Sieger: Klar, der ist raus – der war dann nämlich nicht beim Lusthaus.

Konrad: Aber noch einmal: Verursacher sind nicht wir als Veranstalter und Organisatoren. Das sind die Teilnehmer selbst, weil sie sich nicht an die Vorgaben halten. Es ist nicht so, dass wir es nicht gut organisiert hätten: Die Leute halten sich einfach nicht dran. Die Organisation funktioniert, wo ist unsere Schuld? Sollen wir gnadenlos alles kontrollieren? Nein, das wollen wir nicht! Wir kontrollieren ja auch nicht die U-Bahn-Stationen. Obwohl wir wissen, dass es Leute gibt, die mit der U-Bahn fahren. Nicht nur in Wien. Manchmal erwischen wir sie. Aber wissen Sie, was das jedes Mal für eine Diskussion ist? Einmal hat sogar die schnellste Österreicherin nachweislich (das ist etliche Jahre her) abgekürzt: Das führte zu Handgreiflichkeiten mit den Angehörigen. Darum: Das machen wir nicht. Das steht nicht dafür.

STANDARD: Wenn man darüber spricht, wird daraus eine Diskussion …

Maier: Wobei die Frage schon auch ist, wie groß das Thema tatsächlich ist.

Bild nicht mehr verfügbar.

Die Reichsbrücke im Jahr 2018.
Foto: reuters/heinz-peter bader

Konrad: Wir haben dazu keine Zahlen. Nachdem wir bezüglich dieses Themas aber sehr wenig Kritik bekommen, gehen wir davon aus, dass es nicht dramatisch hoch ist. Aber: Wir wollen nicht bestreiten, dass es so ist.

Wehr: Ein letztes Wort dazu: Ein bisschen steuernd greifen wir da sehr wohl ein, etwa indem wir die Startblockzeiten anders gestaltet haben. Wir starten jetzt in drei großen Wellen: Wenn wir zu lange warten, rennt uns die Spitze irgendwann in die letzten Läufer rein. Da sind wir jetzt schon an der Grenze – aber wir haben vor zwei Jahren die Startblockzeiten geändert, um die Leute in Wellen besser ins Rennen schicken zu können. In Wien laufen jedes Jahr zwischen 6.000 und 6.500 Menschen den ganzen Marathon. Volldistanzstartplätze gibt es aber etwa 9.000 – weil so viele dann doch auf halber Strecke ins Ziel abbiegen. Ist das nicht eine sehr hohe Quote?

Konrad: Das Verhältnis von Anmeldungen zu Startern und Finishern ist fast überall auf der Welt gleich. Bei uns ist es aber so, dass wir mehr Finisher im Halbmarathon haben als Starter. Manche Medien behaupten deshalb, dass etwas nicht stimmt. Weil sie nicht wissen, dass man bei uns als Marathonläufer noch unterwegs switchen kann: Wir sehen das als Supersuperservice.

STANDARD: Aber lädt das nicht auch viele ein, den Lauf es gar nicht wirklich zu versuchen?

Konrad: Mir ist es lieber, einer läuft nicht den ganzen Marathon – weil er sich nicht wohlfühlt oder irgendwas nicht passt. Da ist es mir lieber, er zieht die Reißleine und hat trotzdem ein Ergebnis. Eine Medaille: Es war also nicht umsonst. Das ist doch viel besser, als er läuft 22 Kilometer und steht dann irgendwo in der Liechtensteinstraße – ohne nix.

Wehr: Wir haben auch eine Verantwortung für die Gesundheit der Teilnehmer. Mir ist lieber, jemand justiert sein Ziel kurz vorher um und ist gesund im Ziel, als wir müssen ihn bei Kilometer 35 von der Rettung abholen lassen.

STANDARD: Halbmarathon ist die große Volkslaufdistanz. Einen Marathon laufen pro Jahr gerade 8.000 Menschen in Österreich. Rund 6.000 davon in Wien, aber da sind auch die Gäste dabei. Ist es nicht auch ein Marketingtrick, da stets die mehr als 40.000 Teilnehmer und Teilnehmerinnen herauszustreichen, die an allen Veranstaltungen dieses Wochenendes kumuliert teilnehmen, statt zu sagen: "Der Marathon hat 6.000 Teilnehmer"?

Konrad: Wir sind nicht hier, um Statistiken zu machen, wir wollen etwas Großes machen. Eine große Veranstaltung. Und das ist der VCM. In vielerlei Hinsicht. Natürlich wäre es uns lieber, wenn die Marathonzahlen wieder nach oben gingen. Aber wir können die Leute nicht zum Start prügeln. Wir können und wollen eine Plattform zur Verfügung stellen. Wenn sich soundso viele entscheiden, lieber einen Halbmarathon zu laufen, ist uns das auch sehr recht. Mein Ehrgeiz und der meiner Mitarbeiter ist es nicht zu sagen, wir haben ein so oder so großes 42-Kilometer-Teilnehmerfeld: Wenn sie nicht wollen, wenn sie lieber andere Ziele verfolgen, ist uns das auch recht.

Wehr: Insgesamt profitieren ja alle davon. Der Staffelmarathonläufer profitiert davon, dass er den Topathleten vorbeifliegen sieht. Der Halbmarathonläufer staunt, wenn der Marathonsieger gleichzeitig mit ihm ins Ziel kommt: Das ist spannend. Auch für den Marathonläufer, wenn er bei Schönbrunn vorbeikommt, und da warten bei Kilometer 15 tausende Menschen auf ihren ersten Staffelläufer – und jubeln ihm zu: Das befruchtet sich gegenseitig.

Konrad: Nehmen wir als Gegenbeispiel Frankfurt. Der dortige Veranstalter setzt einen starken Fokus auf die Topathleten und den Marathon. In Frankfurt gibt es keinen Halbmarathon – aber eine Staffel hat er doch: Die Diskussion haben wir schon oft geführt. Er meint eben, dass das nicht zusammenpasst. Wir sehen das anders. Frankfurt ist ein toller Lauf, gar keine Frage. Aber es ist in Summe eine mittelgroße Veranstaltung – und die Stadt würde sich freuen, wenn die Veranstaltung so groß wäre wie Wien: Das ist eine andere Philosophie. Wir bieten beides an. Wer Marathon laufen will, soll Marathon laufen – und wer Halbmarathon laufen will, Halbmarathon. Und wenn sich vier zusammentun, sollen sie eine Staffel rennen. Unser Konzept geht auf – und wenn das Konzept in Frankfurt aufgeht, ist das auch toll: Das sind einfach andere Ansätze.

Maier: Ich fände es auch nicht okay, wenn wir kommunizieren würden "Wir haben 6.000 Marathonläufer – und 30.000, die auch noch irgendwas laufen." Diese Läufer strengen sich genauso an. Für manche, die beim Staffellauf sechs oder neun Kilometer rennen, ist das eine noch größere Challenge als für einen routinierten Marathonläufer, der weiß, dass er die Marathondistanz locker in der Tasche hat. Wir sagen ganz offen, wie viele Leute pro Bewerb antreten, das ist ja kein Geheimnis – aber was vor allem zählt: Sie sind in Wien. Und sie laufen.

Konrad: Das darf man tatsächlich nicht nicht vergessen: Die Leute sind ja hier. Die Zahlen für die Stadt und die Touristiker sind die gleichen: Wie viele pro Bewerb antreten, spielt in dieser Hinsicht keine Rolle. Denn ein Hotelbett braucht jeder – und dem Bett ist es egal, wer drinnen liegt. Ob der Marathon, Halbmarathon oder Staffel läuft: Er kommt, schläft und isst – unabhängig von der Distanz.

Wehr: Noch etwas: Der Marathonläufer ist nicht als Marathonläufer geboren und ist nicht immer Marathonläufer. Er hat die Wahlfreiheit. Er sagt: Das ist meine Stadt und mein Frühling – aber ich habe heuer nicht trainiert, also mache ich nur den Zehn-Kilometer-Lauf am Samstag, weil ich am Sonntag eine Familienfeier habe – und bin trotzdem dabei. Und bin Teil dieser Geschichte.

Maier: Marathon ist natürlich das, wo die besondere Emotion, der Mythos, drin ist. Die 42 Kilometer sind etwas Besonderes: Das ist der "Mount Everest des kleinen Mannes", wie der Wolfgang Konrad immer sagt. Aber: 30.000 andere laufen auch. Und auch das ist eine tolle Leistung.

STANDARD: Es gibt da noch einen Punkt: das Startersackerl. Die Antwort darauf habe ich schon einige Male gehört, ich weiß aber nicht, ob sie authentisch ist: "Wir verkaufen Startplätze, aber keine Startersackerln" lautet sie sinngemäß. Es gibt aber auch ein anderes geflügeltes Wort. Zu einem anderen Lauf: "Beim Frauenlauf braucht jede Frau einen Mann – um das Startersackerl heimzutragen – weil das so voll ist." Beim VCM bekommt man einen Plastikbeutel für das Wechselgewand – aber nicht einmal ein Finishershirt. Es wirkt nicht gerade großzügig, dass es das in Wien nicht gibt.

Das Startersackerl im Jahr 2014.
Foto: thomas rottenberg

Konrad: Es ist ein Riesenunterschied, ob ich am amerikanischen Markt Firmen um 40.000 Samples anfrage oder in Österreich. Es ist für die Unternehmen einfach zu teuer. Wir bewegen uns in einem Achtmillionenmarkt – und brauchen 40.000 Produktsamples. Oder 35.000. Das Verhältnis zum US-Markt ist das, worauf es da ankommt: Der New York Marathon braucht 40.000 Samples – in einem 350-Millionen-Köpfe-Markt.

Aber zeigen Sie mir das Sackerl vom Berlin-Marathon: Da ist auch nix drin. Obwohl Deutschland die Zehnerpotenz zu Österreich ist. Der Frauenlauf ist was anderes. Der profitiert von zwei Dingen. Zum einen ist die Zielgruppe klar definiert. Und 80 Prozent der Konsumgüter werden von Frauen gekauft. Der Frauenlauf hat eine große Drogeriekette als Hauptsponsor: Die haben die Industrie, die genau für diese Zielgruppe produziert. Das ist super – aber ohne DM schaut das Frauenlaufsackerl rasch anders aus.

Noch etwas: Der Frauenlauf ist ein österreichisches Produkt. Mit einem Österreicherinnenanteil von – ich schätze – 98 Prozent. Der VCM hat im Marathon 40 Prozent internationale Teilnehmer: Was hat Römerquelle oder NÖM davon, 35.000 Samples herzugeben, wenn die Hälfte der Empfänger gar nicht am Markt teilnehmen? Genau das ist unser Problem: Sie erreichen mit dem Sample die Zielgruppe nicht präzis.

STANDARD: Der Läufer, der zur Startnummer beim größten Lauf seiner Läuferkarriere ein leeres Sackerl bekommt, versteht das aber nicht.

Konrad: Ich verstehe, dass das für ihn anders aussieht. Der sieht den Lauf – und das Sackerl, das er in die Hand gedrückt bekommt. Da gibt es eine Erwartungshaltung. Das können wir nicht ändern. Sie nicht und ich auch nicht. Was ich aber noch nie verstanden habe: Ich bin noch nie ins Kino gegangen und habe erwartet, dass ich zur Kinokarte auch Popcorn und Cola umsonst bekomme. Warum ist das in der Laufszene so? Das ist historisch gewachsen.

Wehr: Wenn ich in Pinkafeld den Stadtlauf mache, habe ich es leichter: Ich gehe zum Produktmanager eines lokalen Unternehmens, und der hat vermutlich drei Kartons Müsliriegel unterm Tisch stehen. Das sind 600 Riegel. Wenn wir ein Sampling machen, wird daraus eine irre Logistikaufgabe: 35.000 Flaschen, das ist ein Sattelschlepper.

Konrad: Es geht aber weiter: Das typische Samplingprodukt ist meist teurer als das Original, weil es in anderen Größenordnungen hergestellt wird. Und dann wollen wir auch noch Geld dafür, dass wir es gratis verteilen. Weil wir lagern und einpacken müssen. Da stehen Mitarbeiter über dutzende Meter: Das ist Arbeit, und die kostet. Denn das können wir gar nicht mehr selbst machen. Allein das Konfektionieren der Säcke kostet 25.000 Euro: Das schaffen wir mit unserer Manpower nicht. Der Pinkafelder Stadtlauf schafft das: Da macht man das selbst. So wie wir früher. Bei der Winterlaufserie machen wir es bei 800 Teilnehmen auch selbst – aber in dieser Größenordnung geht das nicht mehr. Kurz: Wir scheitern nicht daran, dass wir nicht wollen – sondern an der Logistik, das für 35.000 Leute zur Verfügung zu stellen. Wir würden gern: auch, um uns diese Diskussion zu ersparen.

Wehr: Und dann ist da noch der Umweltgedanke: Wir haben vor Jahren eine wunderschöne Kartonschachtel aufwendig produziert, die VCM-Running-Box ...

Konrad: ... und wissen Sie, was die Leute gemacht haben? Genau: Sie haben alles auf den Boden geschmissen. Aber ich habe Sie vorhin etwas gefragt: Was ist denn beim Berlinmarathon wirklich im Sackerl?

STANDARD: Uff. Ich glaube, in etwa ein Gatorade, eine Brezel, ein Miniduschgel und Wasser.

Konrad: Falsch: Papier. Nur Papier.

STANDARD: Umwelt ist ein gutes Stichwort: Adidas lanciert heuer ein Projekt, den Plastikbecherberg zu verringern. In Wien werden heuer 700 Läufer mit Mehrweglatexbechern unterwegs sein. Im Trailbereich ist das üblich, bei kleineren Teilnehmerfeldern.

Konrad: Wir wollen da mitwirken. Wenn Adidas die Becher liefern kann: Wir sind dabei.

Foto: thomas rottenberg

Wehr: Es ist ein Pilotprojekt. Das geht nicht von jetzt auf sofort: Das ist ein Lernprozess. Wir haben seit Jahren zusätzlich zu den Verpflegungsstationen sogenannte "unbesetzte Wasserstellen". Im Grunde sind das Wasserhähne an einer langen Stange. Das wird jetzt als Wasserstation von Adidas und Wiener Wasser erkennbar sein: Da kann jeder hingehen und seinen Becher füllen.

Konrad: Wir wollen die Chance nutzen, etwas anders zu machen. Wir wollen Müll vermeiden. Uns ist absolut klar, dass das ein Megathema ist und dass es immer wichtiger wird. Das mit den Wasserstationen habe ich bisher in dieser Größenordnung nirgendwo gesehen. Wenn das funktioniert, dann haben wir vielleicht die Lösung, Becherberge zu vermeiden. Offen ist: Können wir auch Energy- und Isogetränke über solche Leitungen ausgeben? Das mit dem Wasser ist ein erster Schritt.

STANDARD: Der VCM unterstützt Spitzenläuferinnen und -läufer, ohne dies laut zu kommunizieren. Lemawork Ketemas Training haben Sie letzten Herbst ohne große Worte substanziell unterstützt. Davon war nirgendwo etwas zu lesen. Wieso nicht?

Konrad: Als ich von den Finanzproblemen rund um Ketemas Training hörte, sagte ich: "Des is a Schas! So kann man keinen Spitzensport betreiben." Da ging es darum, den Druck rauszunehmen: Ich weiß, was es heißt, wenn du als Spitzensportler kein Geld hast. Du solltest abliefern und musst wegen jeden Kleinbetrag zittern. So kann man nicht arbeiten. Da haben wir halt geholfen. Wir hängen das von uns aus nicht an die große Glocke.

Lemawork Ketema.
Foto: VCM / Michael Gruber

STANDARD: Dann stelle ich die Frage allgemeiner: Ist es Aufgabe einer Veranstaltung wie Ihrer, Sportförderung zu betreiben?

Konrad: An und für sich nicht. Das ist Aufgabe des Verbands, der Sporthilfe, des Bundes, wer auch immer. Aber nicht unsere. Wir sind nur Veranstalter. Aber wir sehen unsere Verantwortung auch darin, österreichische Athletinnen und Athleten zu unterstützen. Als ehemaliger Sportler weiß ich, was es bedeutet, wenn man von Veranstaltern nicht fair behandelt wird. Ich habe da Schlüsselerlebnisse: Ich hatte beim Letzigrund-Meeting in Zürich meinen Startplatz, obwohl ich auch in meiner besten Zeit nicht der Läufer war, auf den der Direktor des bedeutendsten Leichtathletikmeetings der Welt gewartet hat. Und ohne dass da irgendetwas vereinbart worden ist, habe ich vom Veranstalter Geld überwiesen bekommen. Da habe ich mir gedacht: Das hat Klasse. Es waren ein paar hundert Franken, aber es zeigte Wertschätzung.

Ich habe allerdings auch andere Seiten erlebt. Und da fühle ich mich in der Pflicht: Man sucht für Athleten dann eben Sponsoren. Schaut, ob im eigenen Budget was geht. Darüber reden wir nicht groß. Ich hätte das nicht angesprochen, wenn Sie nicht gefragt hätten: Das ist unser Selbstverständnis. Hartmann, Schmuck, Buchleitner, Rabensteiner – wie sie auch heißen. Die haben von uns mehr – auch finanzielle – Unterstützung bekommen, als sie es je im Ausland bekommen hätten. Obwohl es nicht unsere Aufgabe ist – und es die dafür eigentlich Zuständigen nicht aus ihrer Pflicht entlassen soll und darf.

STANDARD: Allerletzte Frage: Wo sehen Sie den Vienna City Marathon in fünf, in zehn Jahren?

Konrad: In Wien – wo denn sonst? (Thomas Rottenberg, 27.3.2019)