Ein Komponist in Los Angeles: Walter Arlen aus Wien-Ottakring.

Filmdelights

Walter Arlen ist nicht mehr nach Österreich zurückgekehrt. Der heute 98-Jährige hat die Brunnengasse in Wien-Ottakring nach dem Krieg nicht mehr aufgesucht. Dort wuchs er als Spross einer gewitzten jüdischen Kaufmannsfamilie auf: Mit Schallplattenmusik im Geschäft wurde hier der Umsatz angekurbelt! Im Dokumentarfilm Das erste Jahrhundert des Walter Arlen von Stephanus Domanig blickt der greise Mann nun aber doch auf das Eckhaus, das einmal das populäre Warenhaus Dichter war. Die Nazis haben es seiner Familie entrissen.

Filmdelights

Arlen wurde Musikkritiker der Los Angeles Times – und Komponist. Seine emphatische Musik begleitet den Film von Anfang an; sie drückt die Gespaltenheit des Exillebens aus. Es kollidieren in ihr unterschiedliche tonale und melodiöse Welten. Arlen sei der Inbegriff eines Exilmusikers, sagt Gerold W. Gruber, Gründer und Leiter des Exil-Arte-Zentrums in Wien, das Werke vertriebener Musiker aufarbeitet und präsentiert.

Domanigs filmische Spurensuche wechselt zwischen den Welten. Auf die Skyline von Los Angeles folgt die markante Silhouette der Müllverbrennungsanlage in Wien. Auf den Spaziergängen durch seine verlorene Heimatstadt kehrt Arlen die urwienerischsten Vokabel hervor: Früher sei es hier "pomali" gewesen.

Die letzte Blaue

Der Bruch in Walter Arlens Biografie hält sein Leben bis heute im Griff. Die Orchesterkompositionen tragen Titel wie Kristallnacht in Wien – Nocturne No. 1 oder Die letzte Blaue, so nannte man in Wien einst die tagesletzte Straßenbahn, die am rückwärtigen blauen Licht erkennbar war. Wer sie nicht erreichte, musste zu Fuß weiter.

Acht SA-Leute haben mit ihren Gewehren eines Tages an die Wohnungstür "gepumpert", erzählt Arlen, der Vater wurde nach Dachau deportiert, die Mutter erkrankte psychisch. Mutter, Großmutter und Schwester konnten über London fliehen, Teenager Walter mit dem Schiff von Triest nach New York.

Kochen und Konzerte

Der Film zeigt einen Menschen, der seine Wunden verborgen trägt. Spürbar sind sie dennoch. Wie tief sie gehen, davon gibt der Lebenspartner Arlens, Howard Myers, eine Ahnung. Es sind wahrhaftige Sätze über Liebe und Beziehung, die er als Nebenfigur in Gesprächen äußert und die der Dokumentation eine wertvolle Perspektive hinzufügen. Man sieht die beiden Herren im Konzert, bei Friedhofsbesuchen, im Fitnessstudio, beim Kochen – und auf Partys. "Let's got to the Wurscht", sagt Walter Arlen. Der Riss durch seine Biografie wird auch in der Sprache manifest. Von diesem Riss erzählt der Film voller Zuwendung. (Margarete Affenzeller, 27.3.2019)