Niederlage für Premierministerin Theresa May: Das Parlament hat erstmals seit über 100 Jahren der Regierung die Herrschaft über die Tagesordnung entrissen.

Foto: APA/AFP/UK PARLIAMENT/MARK DUFFY

Bis einer weint: Die "Grandmas against Brexit" machen in großmütterlicher Manier ihrem Unmut über das Chaos rund um Großbritanniens EU-Ausstieg vor dem Parlament in Westminster Luft.

Foto: APA / AFP / Isabel Infantes

Der Plenarsaal blieb beinahe leer. In zahlreichen Beratungsräumen aber diskutierten britische Parlamentarier am Dienstag hinter verschlossener Tür fieberhaft über die nächsten Brexit-Schritte, nachdem eine parteiübergreifende Allianz am Montagabend der konservativen Minderheitsregierung das Initiativrecht abgetrotzt hatte. Am Mittwoch soll eine Reihe nichtbindender ("indicative") Abstimmungen die Möglichkeit zu einem Kompromiss über den verschobenen EU-Austritt ausloten.

Selbst die fürs Gesetzgebungsprogramm der Regierung zuständige Ministerin Andrea Leadsom sprach im Plenarsaal scherzhaft vom "Premierminister für West Dorset": Gemeint war der Abgeordnete dieses Wahlbezirks, der frühere Kabinettsminister Oliver Letwin.

Sein Änderungsantrag, eingebracht mit dem Fraktionskollegen Nick Boles und dem Labour-Veteranen Hilary Benn, war am Montag mit 329 zu 302 Stimmen vom Unterhaus angenommen worden – gegen den Widerstand der eigentlichen Premierministerin Theresa May. Dass damit das Parlament erstmals seit über 100 Jahren der Regierung die Herrschaft über die Tagesordnung entrissen hatte, kennzeichnete der langjährige EU-Gegner William Cash als "Verfassungsrevolution: Sie wird dem Hohen Haus noch leidtun."

Reihenfolge und Verfahren unklar

In welcher Reihenfolge und nach welchem Verfahren die Abstimmungen vor sich gehen sollen, blieb bis zum späten Dienstagnachmittag unklar. Normalerweise wird im Unterhaus mit dem zeitaufwendigen "Hammelsprung" entschieden; diesmal könnten Stimmzettel mit mehreren Möglichkeiten oder aber Voten über unterschiedliche Alternativen Anwendung finden.

Zur Wahl stehen die Aufkündigung des Austritts nach Artikel 50 des Lissabon-Vertrags, wie es eine mittlerweile von 5,6 Millionen Bürgern unterstützte Internet-Petition fordert; ein zweites Referendum, für das am Sonntag Hunderttausende in London auf die Straße gegangen waren; der weiche Brexit, bei dem die Insel in Binnenmarkt und Zollunion verbleiben würde; das vorliegende Verhandlungspaket aus Austrittsvertrag sowie politischer Zukunftserklärung, die alle Möglichkeiten zukünftiger Zusammenarbeit offenlässt; schließlich der chaotische Austritt ohne Vereinbarung ("No Deal").

DUP bekräftigt ihr Nein

Der EU-Gipfel der Staats- und Regierungschefs hatte Großbritannien 14 zusätzliche Tage Bedenkfrist über den geplanten Scheidungstermin hinaus eingeräumt. Sollte das Parlament wider Erwarten im dritten Anlauf dem zwischen May und Brüssel verhandelten Austrittspaket zustimmen, käme die Trennung am 22. Mai. Die nordirische Democratic Unionist Party (DUP), Mays bisherige Mehrheitsbeschafferin, bekräftigte ihr Nein zum May-Deal.

Erst im Anschluss an die nicht-bindenden Abstimmungen will die Regierung am Mittwoch dem Parlament jene Verordnung vorlegen, die die beiden möglichen neuen Termine 12. April und 22. Mai im britischen Recht verankern würde. Offenbar soll den Abgeordneten weiterhin das Folterwerkzeug eines möglichen "No Deal" gezeigt werden, um sie für eine dritte Abstimmung über Mays Paket vorzubereiten.

Möglicher Sinneswandel des Hardliner

Auffällig an der Debatte über Mays Regierungserklärung am späten Montagnachmittag war weniger der schrille Ton der konservativen Brexit-Ultras; dabei schoss Crispin Blunt den Vogel ab, indem er die Verschiebung des Austrittstermins mit der Kapitulation der britischen Garnison in Singapur während des Zweiten Weltkriegs verglich. Hingegen schwiegen einflussreiche Brexiteers wie Ex-Parteichef Iain Duncan Smith oder Jacob Rees-Mogg. Beide waren am Sonntag zu Gast auf dem Landsitz der Premierministerin gewesen.

Am Dienstag deutete Rees-Mogg einen Sinneswandel an. Nach wie vor halte er einen "No Deal" für besser als eine schlechte Vereinbarung. "Aber Frau Mays Deal ist besser als gar kein Brexit." Genau diese Logik predigen die Premierministerin und ihre immer weniger werdenden Gefolgsleute seit Monaten.

Am späten Mittwochnachmittag will die 62-Jährige in der Fraktion Rede und Antwort stehen. Dann könnte sie ihren bereits angekündigten Rücktritt durch einen Termin bekräftigen und damit all jenen Hoffnung machen, die in der nächsten Verhandlungsphase mit Brüssel auf eine härtere Gangart setzen. Als Kandidaten für Mays Nachfolge werden Ex-Außenminister Boris Johnson, Ex-Brexitminister Dominic Raab, Parlamentsministerin Andrea Leadsom sowie Umweltminister Michael Gove gehandelt. (Sebastian Borger aus London, 27.3.2019)