Um Experimente durchführen zu können, die im eigenen Labor nicht möglich sind, fahren Experimentalphysiker auf Messzeit – dabei handelt es sich um einen Forschungsaufenthalt an einer Großforschungseinrichtung wie CERN oder einem Synchrotron, um spezielle Versuche zu realisieren. Die Prozedur zur Beantragung einer Messzeit ist mühsam: In der Regel muss man einen zweiseitigen Projektantrag schreiben, in dem man darstellen soll, was man messen möchte, warum man Synchrotronstrahlung dafür braucht und was von den Messungen erwartet wird. Nachdem der Antrag eingereicht ist, wird er durch ein wissenschaftliches Komitee begutachtet, welches dann entscheidet, ob der Antrag interessant und zeitgerecht ist. Wenn der Antrag diese Bedingungen erfüllt, wird die Messzeit genehmigt.

Danach muss man sich einen Termin gemeinsam mit den Wissenschaftern am Synchrotron ausmachen. Es ist immer wichtig, so viele Wissenschafter wie möglich aus der eigenen Gruppe mitzunehmen, da der Betrieb am Synchrotron 24/7 läuft. Wenn die Messungen lange genug sind, ist Schlafzeit inbegriffen, wenn nicht, dann müssen Schichten organisiert werden. Trotzdem kann ein normaler Arbeitstag am Synchrotron bis zu 16 Stunden dauern. Er beginnt frühmorgens und dauert bis spät in der Nacht.

Die wichtigste Anzeige während der Messzeit: experimenteller Aufbau und der Strahl (grüner Balken).
Foto: A. Navarro-Quezada

Was ist ein Synchrotron?

In einem Synchrotron wird ein feiner Strahl, gewöhnlich aus Elektronen, in einem linearen Beschleuniger auf Energien von bis zu 100 MeV (Megaelektronenvolt) beschleunigt (das entspricht einer Geschwindigkeit nahe der Lichtgeschwindigkeit). Nach dieser ersten Beschleunigung wird der Elektronenstrahl in einen zirkularen Beschleuniger – genannt Booster – geführt, der die Energie weiter auf ein paar GeV (Gigaelektronenvolt) erhöht. Die Elektronen werden dann in einen Speicherring eingeleitet, der mehrere hunderte von Metern im Durchmesser hat. In dem Speicherring sind magnetische Bauteile, entweder Dipole oder Undulatoren (bestehend aus mehreren abwechselnden Magneten), die die Flugbahn der Elektronen krümmen und sie zum Oszillieren bringen. Die Elektronen verlieren ihre Energie in Form von Synchrotronstrahlung. Diese von den Dipolen und Undulatoren erzeugte Strahlung wird mittels optischer Systeme in Versuchsstationen, auch Beamlines genannt, gelenkt, ausgewählt und konditioniert.

Das alles findet im Ultra-Hoch Vakuum (UHV) statt. Das bedeutet, dass sich die Elektronen in luftevakuierten Röhren bewegen. Der Druck in den Röhren beträgt ungefähr 10⁻¹⁰ hPa (Hektopascal)  – das heißt, dass ein Gasmolekül ungefähr 1 bis 100.000 Kilometer umherfliegen kann bevor es auf ein zweites Molekül trifft. Zum Vergleich: Der atmosphärische Druck beträgt 101.325 Pa. Hier fliegt ein Gasmolekül nur 60 Nanometer (0.000000060 Meter), bevor es auf ein Zweites trifft. Das UHV wird benötigt, um Kollisionen zwischen den beschleunigten Elektronen und Gasmolekülen der Umgebung zu vermeiden, welche die Elektronen verlangsamen und deren Energie wegnehmen würden.

Synchrotronstrahlung wird in verschiedensten Experimenten angewendet, die für die Forschung in den Bereichen Medizin, Archäologie, Astrophysik, Materialwissenschaften, Biologie, Chemie, Umweltwissenschaften, Lebensmittelindustrie, Autoindustrie und so weiter eingesetzt werden. Jede Beamline beinhaltet ein Labor für Probenpräparation, Messungen und Analyse. Im Gegensatz zu konventionellen Lichtquellen bietet Synchrotronstrahlung verstellbare Energien in einem großen Energiebereich, höhere Intensität und geringere Lichtverteilungen. Außerdem bietet sie eine hohe Auflösung (Signal-zu-Rausch-Verhältnis). In den tangentialen Beamlines befinden sich drei Räume: der Optikraum, wo die Synchrotronstrahlung mittels mehrerer Spiegel fokussiert und zentriert wird, der Experimentierraum, wo die Strahlung als Lichtquelle für einen experimentellen Aufbau verwendet wird, und der Nutzerraum, wo die Wissenschaftler sitzen und das Experiment kontrollieren und beobachten.

Impressionen unserer Messzeit in SOLEIL.
Foto:A. Navarro-Quezada

Einsicht in den Ablauf einer Messzeit

Ankunft in SOLEIL

Wir erreichen das Synchrotron SOLEIL nach einer achtstündigen Reise in Saint.Aubin. Der Ort befindet sich im Grünen außerhalb von Paris, neben dem Forschungszentrum CEA und der Universität von Paris-Saclay. Im Willkommenszentrum erklärt uns eine nette Sicherheitsdame in einer Mischung aus Französisch und Englisch den SOLEIL-Standort: ein geschlossenes Areal mit eigenem Gasthaus, Kantine, Synchrotron und einem Verwaltungsgebäude. Wir bekommen eine Ausweiskarte, die alle wichtigen Türen für unseren Aufenthalt öffnet.

Die Messzeit

Diesmal ist eine unserer Doktorandinnen mit dabei, Anna. Dank dem Synchrotron-Nutzerprogramm der Europäischen Union CALIPSO, sind unsere Übernachtungs- und Versorgungskosten komplett gedeckt. Wir sind beide erstaunt, wie viel Essen inbegriffen ist. Nach unserer Ankunft gehen wir zum Synchrotron, um die Beamline zu suchen, wo unsere Experimente stattfinden werden. Das erste was uns auffällt, sind die Malereien des französischen Künstlers Philippe Beaudeleque an den Wänden entlang des Speicherrings: Tiere, die mit geometrischen Figuren, kosmischen Motiven und mathematischen Symbolen dargestellt sind. Nach der Begehung eines Viertels des Synchrotron-Rings finden wir SIRIUS, die Beamline, wo wir die nächsten vier Tage (von Donnerstag früh bis Montag früh) mit Experimentieren verbringen werden.

Ziel unserer Experimente ist die Messung von DAFS – Diffraction Anomalous Fine Structure, einer Kombination aus Röntgenbeugung mit chemischer Selektivität und der Informationsgewinnung über die lokale Umgebung von Atomen in einer Kristallstruktur. Die untersuchte Probenreihe besteht aus Galliumnitrid-(GaN)-Dünnschichten mit eingebetteten magnetischen Eisennitrid-(Fe4N)-Nanokristallen, die in unserem Labor in Linz hergestellt werden. Man kann sich diese Proben wie ein Stück Sandkuchen mit geordneten Rosinen vorstellen: der Kuchen ist das GaN und die Rosinen sind die Eisennitrid-Nanokristalle. Der Zweck unserer Messungen ist es, herauszufinden, ob sich Gallium-Atome in den Eisennitrid-Nanokristallen befinden. Das ist wichtig, da die Einbettung von Gallium in der Struktur von ferromagnetischem Eisennitrid das Material antiferromagnetisch macht.

Der DAFS-Aufbau in SIRIUS.
Foto: A. Navarro-Quezada

In Linz können wir zwar die Kristallstruktur der Eisennitrid-Nanokristalle mittels Röntgenbeugung messen, aber nicht die Energie der Röntgenquelle verstellen. Dies ist jedoch in SIRIUS möglich. Jede Messung dauert circa 1,5 Stunden. Aber um ein höheres Signal-zu-Rausch-Verhältnis zu haben, nehmen wir mehrere Messungen für jede Probe auf. Insgesamt wird jede Probe zehn bis 20 Stunden gemessen.

Nach einem Detektorausfall am ersten Tag, der uns zu einer Schichtarbeit während der ersten Nacht zwingt, läuft die Messzeit sehr erfreulich und wir schaffen es, mehr Schlaf zu bekommen als gedacht. Neben den Experimenten müssen wir auch darauf achten, dass wir die Öffnungszeiten der Kantine nicht verpassen. Während die Messungen laufen, hören wir Musik, wir lachen, arbeiten und reden über Wissenschaft und das tägliche Leben.

Am Ende unserer Messzeit haben wir fünf Proben gemessen, dabei eine Menge Daten aufgenommen und schon erste Erkenntnisse durch eine grobe Auswertung erlangt. Der Weg zurück nach Linz ist eine Spur anstrengender als der Weg zu SOLEIL, da wir vier Zwölf-bis-16-Stunden-Arbeitstage hinter uns haben. Dennoch sind wir sehr erfreut über die Ergebnisse. Glücklich und erschöpft kommen wir wieder in Linz an und freuen uns schon auf die nächste Messzeit. (Andrea Navarro-Quezada, 4.4.2019)

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