Im Kostümverleih des Schmierendirektors Hassenreuter herrscht vorübergehend eitel Wonne: Sven-Eric Bechtolf in trauter Zweisamkeit mit der Schauspielerin Rütterbusch (Andrea Wenzl).

Foto: Bernd Uhlig

Wie Fetzen liegen unendlich viele Zeitungsseiten zerknüllt auf der Bühne des Burgtheaters: die Sensationen vom vorvergangenen Tage. Nutzlos sind sie geworden, die abgefallenen Blätter vom Baume der Erkenntnis. Von Zeitungslektüre hat sich auch Gerhart Hauptmann redlich ernährt.

Er, der weltberühmte schlesische Autor des naturalistischen Tragödien-Komödien-Bastards "Die Ratten", hat die kleinen Leute für ihr Elend nicht verachtet. Sein Mütchen hat er lieber an den Schwätzern gekühlt: an den ebenso gedankenlosen wie dünkelhaften Kraftprotzen der wilhelminischen Ära.

Berliner Prozessberichte gaben in den Nuller-Jahren des 20. Jahrhunderts den Anstoß zu einem recht ungewöhnlichen Fall von "Kindesunterschiebung". Mutter John (Johanna Wokalek), Bewohnerin einer Mietskaserne im Osten Berlins und beredte Gemahlin eines vor Muskelkraft fast lahmen Maurerpoliers (Oliver Stokowski), schwatzt einem Dienstmädchen die Frucht von dessen Fehltritt ab.

Brut- und Sammelstätte

In der Wiener Burg entpuppt sich der Schauplatz dieses unschönen Handels als schwer zu überblickende Brut- und Sammelstätte: ein Magazin für das Unmaß menschlicher Gemeinheiten. Stellwände aus Industrieglas ergeben ein milchig trübes Labyrinth (Bühne: Martin Zehetgruber).

Die hiesigen Untermieter sind der Gosse mit unheiler Haut entronnen. Die Blicke sind scheel und durchschneiden die dicke Luft wie frisch geschliffene Messer. Es ist die tiefste Armut, die die Menschen am nachhaltigsten zerstört. Der Befund, den Meisterregisseurin Andrea Breth aus Anlass ihrer letzten Burgtheater-Inszenierung in Wien zurücklässt, ist von niederschmetternder Eindeutigkeit. Aber er krönt eine zum Niederknien kluge, präzise, wägende Aufführung.

Anzuzeigen gilt es das Desaster menschlicher Niedertracht. Dort, wo soziale Bindungen entstehen, ersetzen sie auf die ungesündeste Weise die Familienbande. Als Ergebnisse sind zu verbuchen: Kindesmord, Liebesverrat, Aufkündigung der Solidarität.

Und als Gravitationszentrum inmitten des Elends agiert die John: eine blasse, zähe Megäre der Mietskaserne, die ihrem vor Jahren verstorbenen Säugling, dem "Adelbertchen", nachtrauert. Die mit kesser Schnauze ihre Interessen durchsetzt. Die auf Messers Schneide tanzt und obendrein ihren halbdebilen Bruder Bruno (Nicholas Ofczarek) in Schach halten muss, der als Riesenbaby sensationslüstern die Hausparteien mit Blicken kitzelt.

Tönerne Gottheiten

Die tönernen Gottheiten dieser verfehlten Schöpfung sind Ratten: Vier riesenhafte Nager, an denen das menschliche Treiben wie im Tempo eines Alptraums vorüberzieht. Und als eigentlicher Gegenspieler von Frau John macht ein "verkrachter Schmierendirektor" (Eigeneinschätzung) von sich reden: Der gewesene Theaterdirektor Hassenreuter (Sven-Eric Bechtolf).

Er gleitet im Schmuddelfrack durch das Papiermeer wie ein ramponiertes Dampf- und Kanonenboot. Er unterhält einen Kostümverleih – und verlustiert sich beinahe unter den Augen seiner Frau (Sylvie Rohrer) mit der jugendlichen Liebhaberin (Andrea Wenzl) einer Provinzbühne. Wenzl gibt die lüsterne Viper, die Fin-de-siècle-Megäre. Und in der Tat stecken die fünf Akte voller solcher Virtuosenstücke; die zahlreichen Mitglieder der Breth-Familie sind sich nicht zu schade, für jeweils eine Arie, ein Solo vorbeizuschauen.

Sie alle spielen wie menschgewordene Götter. Roland Koch als vor Rechtschaffenheit platzender Pastor, der mit einem Kandidaten der Theologie als Sohn geschlagen ist, der unbedingt Schauspieler werden möchte (und Hassenreuters Tochter unziemlich anbrät). Alina Fritsch, die als verwahrlostes Kind Augen macht, groß wie Wagenräder. Andrea Eckert (statt der erkrankten Andrea Clausen), die als sozial abgestiegene Bourgeoise ihr Elend hinter einer Fassade von Grandezza verbirgt.

Tausend Puzzlesteine

Aus tausend Puzzlesteinen setzt sich das Wimmelbild menschlichen Elends zusammen. Andrea Breth lässt kein Jota nach in Sachen Pessimismus. Die Menschen sind nicht einmal schlechten Willens; sie unterlassen es nur leider fahrlässig, einander als Brüder und Schwestern im Geiste (und im Fleische) zu begegnen. Komparsen wie gesichtslose Gestapo-Beamte infiltrieren diese Hölle auf Erden.

Die John stiehlt ein Kind, um letztendlich alles zu verlieren: den Mann, das Baby, ihr Leben. Wokaleks zähe Tüchtigkeit führt zu nichts anderem als geradewegs ins Verderben. Der herzliche Applaus galt der Quersumme von Breths Schaffen. Niemand anderer vermag so wie sie Genuss zu bereiten, der sich aus der Erkenntnis absoluter Illusionslosigkeit speist. Andrea Breth verabschiedete sich via Mikrofon von ihrem Publikum. Wer von ihr Schauspielinszenierungen in Wien erleben will, wird von nun an lange, lange warten müssen. (Ronald Pohl, 28.3.2019)