Captain Hogie, Schwarm aller Puppen: Steve Carell hat in "Willkommen in Marwen" einen Helden- und einen Antiheldenpart.

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Dass ein Dokumentarfilm über einen eigenwilligen Fotokünstler einige Jahre später einen Spielfilm veranlasst, passiert selten genug. Einmalig muss es jedoch erscheinen, wenn echte Menschen und per Performance Capturing animierte Plastikfiguren darin eine unscharf getrennte Welt bewohnen. Und Letztere im Inglourious-Basterds-Stil eifrig Nazis niedermetzeln, während Erstere in der amerikanischen Vorstadt leben.

Man sieht schon, Willkommen in Marwen ist ein spezieller Film. Erklärbar ist er nur durch Hollywoodregisseur Robert Zemeckis (66), den vielleicht trickfreudigsten US-Filmemacher seiner Generation. Die meisten verbinden ihn mit dem 80er-Klassiker Back to the Future oder mit Forrest Gump, als Tom Hanks noch gerne Einfaltspinsel spielte. Ein Tüftler, ja Technik-Nerd im Herzen, versteht Zemeckis jeden Film als Experiment, um die Möglichkeiten des Kinos ein bisschen weiter zu denken.

Als er Marwencol, Jeff Malmbergs Doku über die Leidensgeschichte von Mark Hogancamp und seine Kunst, das erste Mal sah, witterte Zemeckis gleich einen anders gepolten Film. "Ich war vor allem von der Geschichte fasziniert: Dass ein Mensch Kunst als eine Art der Heilung praktiziert", erzählt er im Gespräch mit dem Standard in einem Hotel in Berlin. "Hogancamps Fotografien legten für mich sofort das Medium Film nahe. Das Drama zwischen den Bildern konnte man nur als Film erzählen. Es war Kino."

Robert Zemeckis (re.) mit Steve Carell beim Dreh im Garten.
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Kunst und Trauma sind in dieser Geschichte eng verknüpft. Hogencamps Passion war das Crossdressing, vor allem liebte er es, in alle Sorten von Pumps zu schlüpfen. Das ließ ihn zur Zielscheibe von homophoben Gewalttätern werden. Eines Nachts wurde er so brutal zusammengeschlagen, dass fast alle Erinnerungen an seine bisherige Existenz ausgelöscht waren. Er konnte auch nicht mehr als Zeichner arbeiten, weil seine Hände zu sehr zitterten.

Mit Spielzeugfiguren errichtete er daraufhin in seinem Garten eine imaginäre, an den Zweiten Weltkrieg angelehnte Gegenwelt, die er auch fotografisch festhielt. Sein heldenhaftes Alter Ego hieß Cpt. Hogie, ein draufgängerischer G.I. in speckiger Lederjacke. Bruchgelandet in Marwencol, stellt er sich tagein, tagaus mit lockerem Mundwerk und flinkem Finger am Abzug Nazis entgegen. Sehr zum Gefallen der weiblichen Puppenbevölkerung.

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Was Zemeckis an diesem Stoff fasziniert hat, ist kaum zu übersehen. Eine Vorliebe seiner Filme war es schon immer, Figuren in ihre Flucht vor der Realität zu begleiten bzw. die Überlappung zweier Realitäten verblüffend auszugestalten. So betrachtet, kann man sich Willkommen in Marwen als stärker im Realen ankernde Version seiner (teil-)animierten Filme Falsches Spiel mit Roger Rabbit oder Polarexpress nähern.

Es ist zudem nicht das erste Mal, dass Zemeckis von Außenseitern erzählt, die mit ihrer Fantasie reale Zerwürfnisse kompensieren. "Das ist wohl der Grund, warum ich Filmregisseur bin", meint Zemeckis über diese Beobachtung. "Jeder sucht auf seine Art die kreative Auseinandersetzung mit der Welt. Entweder man schreibt, oder man baut kleine Zugwelten; oder man singt in einem Chor!" Und obwohl ihm glücklicherweise nichts Traumatisierendes wie Hogencamp widerfahren ist, begreife er es als Aufgabe von Kunst, schwer fassbaren Zusammenhängen emotionalen Ausdruck zu verleihen.

Spiel mit Archetypen

Dass es ausgerechnet Actionfiguren sind, mit denen Hogencamp hantiert, mithin ein Spiel mit Archetypen (und was die Barbie-Puppen anbelangt: auch mit sexistischen Klischees), war wohl weiterer Anreiz für Zemeckis. Wie seine Regiekollegen Steven Spielberg oder George Lucas zeigte er nie Scheu vor der Popkultur. Zugleich will Willkommen auch Marwen ganz unironisch von seelischer Zerrüttung erzählen. Mit Steve Carell hat er dafür einen Schauspieler bei der Hand, der sowohl komische wie aus der Welt gefallene Figuren beherrscht.

Nostalgische Wehmut kennt Zemeckis nur, wenn es um die kollektive Erfahrung des Kinobesuchs geht: "Das würde ich sehr vermissen!" Er war ein Pionier des Motion Capturing im Kino. "Hier ist die einzige Wahrheit über die Zukunft: Wir unterschätzen sie immer!", sagt er, wenn man ihn nach den Veränderungen fragt, die Hollywood erwarten. "Es wird nicht lange dauern, bis wir einen komplett virtuellen, humanoiden Schauspieler haben. In Modemagazinen gibt es schon jetzt Modelle ohne reales Vorbild."

In Willkommen in Marwen wurden die Figuren noch mit realen Darstellern zu Leben erweckt, deren Bewegungen jene der Figur steuern, zusätzlich hat man die mimetische Qualität der Puppen mit speziell belinsten Kameras gesteigert. Der Effekt zielt hier jedoch nicht so sehr auf Realismus ab – die Puppen sollten als Puppen kenntlich bleiben, ihre Künstlichkeit behalten. So bleibt auch der Graben bestehen zwischen der versehrten Wirklichkeit Hogencamps und der Spielebene, in der immer wieder dieselben Aktionsmuster von Gefahr und Rettung ablaufen.

Als Unterhaltungsfilm, der zwischen sentimentalen und absurd-anarchischen Tönen schwankt, bleibt Willkommen in Marwen eine Kuriosität. Ziemlich sicher hat Zemeckis bei der Realisierung auch an seine eigene Position als Filmemacher gedacht – es gibt deutliche Referenzen auf sein Werk. Wollte er den Eskapismus seiner Filme einmal anders konturieren? Zemeckis antwortet salomonisch damit, dass er immer mit Antihelden sympathisiert habe: "Das sind uramerikanische Geschichten von Underdogs, die sich wider Erwarten gegen die Verhältnisse durchsetzen." Superhelden hätten ihn einfach nie interessiert.