Berlin an einem Samstagnachmittag im März. Ein Café zu Füßen der Gedächtniskirche. Feridun Zaimoglu ist schon da. Er hatte am Vorabend eine Lesung im Literaturhaus, aus seinem neuen Buch Die Geschichte der Frau. Gerade hat er eine Rezension in der Taz gelesen. "Eine Hinrichtung", seufzt er. Johanna Adorján, sie trägt ein Sweatshirt mit der Aufschrift "Lüge", stößt pünktlich dazu. Sie hat in der Süddeutschen Zeitung eine Kolumne über Männer geschrieben, die nun in Buchform erschienen ist. Ein Mann hat also ein Buch über Frauen geschrieben und eine Frau eines über Männer.

Das ALBUM hat deswegen die beiden zu einem Gespräch gebeten, um über Frauen und Männer, Gott und die Literaturwelt zu reden. Und damit die Geschlechtergerechtigkeit voll und ganz gegeben ist, haben die in Berlin lebende österreichische Autorin Sabine Scholl und der langjährige, auch in Berlin lebende STANDARD-Mitarbeiter Bert Rebhandl dieses Gespräch zu zweit moderiert und mitgeführt.

Rebhandl: Ist das in Ordnung, wenn ein Mann ein Buch schreibt, das er "Die Geschichte der Frau" nennt und in dem er die Stimmen von zehn Frauen übernimmt?

Adorján: Natürlich. Andersrum geht es ja auch auf. Zum Beispiel bei Yasmina Reza.

Zaimoglu: Oder bei Patricia Highsmith.

Adorján: Oder bei Patricia Highsmith, genau. Menschen sind sich sehr ähnlich in ihren Unterschieden.

Rebhandl: Und doch erscheinen die Männer in Ihren kurzen Texten im eben erschienenen Buch "Männer" ziemlich befremdlich.

Adorján: Ich weiß nicht, ob ich nicht über Frauen ähnlich staunen könnte. Auf Männer kam ich, weil ich ein Thema gesucht habe, das sich für die Form einer Kolumne gut eignet. Da kann man ja nicht jedes Mal wochenlang recherchieren. Männer sind überall. Ich habe aber bald aufgehört, mich zu sehr auf die Befremdlichkeit zu konzentrieren. Es gibt zwar viele Männer, die mir auffallen, weil sie zum Beispiel auf Bühnen sitzen und sehr viel reden. Aber in den Texten ist es so halbe-halbe, halb tolle Männer, halb solche, die sehr laut im Zug telefonieren.

Die deutsche Schriftstellerin Johanna Adorján: "Feminismus ist doch erst dann erfolgreich, wenn die Männer mitmachen."
Foto: Nadine Kunath

Scholl: Ich fand die Männer gar nicht befremdlich, sondern habe vieles wiedererkannt. Es gibt ja diese Verhaltensweisen, zum Beispiel dieses Nicht-zu-Wort-kommen-Lassen, das wird im Buch liebevoll und pointiert beobachtet. Das passiert ja dauernd. Wie man dazu kommen könnte, Frauen mehr Redezeit zu verschaffen, ist aber eine ganz andere Frage.

Rebhandl: Auf die ganz andere Frage kommt es an. Zwar haben wir inzwischen gelernt, dass Männer und Frauen zwei und mehr Geschlechter mit einem vielschichtigen Spektrum von Unterschiedlichkeiten und Ähnlichkeiten sind, aber in der Literatur, in den Medien dominieren weiterhin Polaritäten. Es gibt offensichtlich eine Unzufriedenheit auch bei Männern, sonst müsste Feridun Zaimoglu nicht einen Roman schreiben, der das Geschlechterverhältnis welthistorisch neu aufmacht.

Zaimoglu: Das ist ein Missverständnis. Mein Buch ist ein Bekenntnis zur Notwendigkeit einer Weltgeschichte aus weiblicher Perspektive. Das bedeutet nicht – um Gottes willen, welch eine Anmaßung wäre das -, dass ich auf 400 Seiten die Weltgeschichte umpflüge. Es ist ein Beitrag. Mit hundert Beispielen wäre das nicht fertig. Man muss aber das Große wagen. Was mir geschlechterübergreifend immer missfällt, ist, dass man immer im Kleinen bleibt. Harmoniehäschen hoppeln in diese Richtung, hoppeln in jene Richtung. Ich habe dieses Buch, das kompromisslos ist, geschrieben, weil mir diese Harmoniesucht auf die Nerven geht. Männer und Frauen können sich schon zusammenraufen. Mir wird natürlich jetzt vorgeworfen, dass ich so tue, als wäre ich eine Frau, und mit geistesgestörten Frauen wie Valerie Solanas sympathisiere ...

Rebhandl: Aber ist das nicht ein einleuchtender Vorwurf? Zehnmal Geschichte aus dem Blickwinkel von Frauen. Und jetzt schreibt das schon wieder ein Mann.

Adorján: Das ist doch toll. Feminismus ist doch erst dann erfolgreich, wenn die Männer mitmachen.

Scholl: Dass Sie das machen, ist ein wichtiger Fingerzeig. Die Arbeit daran wäre endlos. Reell gibt es noch so viel aufzudecken. Es gibt in Wien im Belvedere gerade diese Ausstellung "Stadt der Frauen. Künstlerinnen in Wien von 1900 bis 1938". Die Kuratorin hat 20 Jahre lang recherchiert und zahlreiche Künstlerinnen gefunden, die damals gezeigt wurden, aber dann im Laufe der Zeit aus der Wahrnehmung verschwunden sind. Jetzt hängen diese Bilder, und man hat das Gefühl, man kannte nur eine Hälfte der Kunstgeschichte. So viele andere Perspektiven, vor allem auch auf die weiblichen Körper, das war echt notwendig und für mich ein Beispiel.

Adorján: Das Thema ist generell schwierig. Wann immer man Sätze sagt mit "die Frauen" oder "die Männer", geht es ja meistens mit einer Dummheit weiter. Dabei gibt es Sachen, bei denen die Unterschiede ganz konkret sind. Gehälter zum Beispiel. Ich habe gerade neulich erfahren, dass ein vergleichbarer Kollege in einem vergleichbaren Posten um ein Viertel mehr bekommen hat als ich, das hat mich wirklich fassungslos gemacht. Jetzt arbeite ich frei, da kann man nicht mehr so vergleichen. Und diese Angelegenheit ist auch schwer zu greifen, weil ja keiner sein Gehalt offenlegt.

Rebhandl: Wie ist es bei Vorschüssen? Bekommen Frauen da auch relativ weniger?

Adorján: Man hört ganz selten überhaupt, wie viel ein Vorschuss beträgt. Das verraten ja auch Frauen nicht. Das hat oft nichts mit dem Geschlecht zu tun.

Scholl: Es gibt die PEN-Initiative "Frauen zählen". Da ist in allen wichtigen Medien gezählt worden: Welche Bücher werden besprochen, von wie vielen Männern und wie vielen Frauen, wie ist der Frauenanteil bei Literaturpreisen? Und das Ergebnis ist deutlich: Frauen sind stark unterrepräsentiert.

Adorján: Der Blick ändert sich ja gerade, es fällt den Zeitungen selbst auf, dass sie schon wieder fünf Bücher von Männern besprochen haben, von Männern. Bei Gehaltsveränderungen habe ich oft zu hören bekommen: Mehr geht leider nicht, viele Männer bekommen übrigens deutlich weniger. Man soll sich als Frau immer höflich nach unten orientieren. Ich würde gern anregen, dass man die Gehaltsverhandlungen als Frau nicht selbst führt.

Scholl: Sondern einen Agenten hinschickt?

Adorján: Ja. Mal die nächsten paar Jahre, bis sich alles eingerenkt hat. Um einmal einen konkreten Vorschlag zu machen.

Zaimoglu: Damit sind wir bei der Wirtschaftsmacht der Frauen. Mehr und mehr zeigt sich, dass Belletristik weiblich besetzt ist. Da sitzt ein faltiger Mann wie ich, der versucht, zu imponieren, und die Frauen haben diesen Mann anzubeten. Die Frau besucht die Lesung, kauft ein Buch, hält es zum Signieren hin. Das ist das Bild, das wir bekommen, wenn wir die geschummelte Bestsellerliste im Spiegel anschauen. Auf der richtigen hingegen: nur Frauen. Historische Romane, Fantasy, Selbstverwirklichung und Selbsterfahrung, ein bisschen kitschig. Da spielt auch die Macht der Buchhändlerinnen eine Rolle ...

Adorján: Es gibt auch immer mehr Verlegerinnen.

Zaimoglu: "Meine Schwester, meine Mutter, meine Großmutter und meine Tanten wurden immer als Frauen, die Probleme machen, dargestellt, weil sie sich bestimmte Dinge nicht gefallen ließen."
Foto: Horst Galuschka

Rebhandl: Die feuilletonistischen Bestsellerlisten bilden also einen Bereich ab, der gar nicht groß von ökonomischer Wichtigkeit ist? Das Geld wird anderswo verdient?

Zaimoglu: Allerdings. Aber ich will den Betrieb nicht so verdammen. Als Arbeiterkind bin ich im Laufe der Zeit zu einem radikalen Befürworter der bürgerlichen Kultur geworden. Denn meine Klasse, meine Schicht kauft keine Bücher. Früher hieß es bei uns, wer liest, wird schwul. Also hat man nicht gelesen. Der vielgescholtene Betrieb bildet eine Schutzzone, und man braucht diese Schutzzone, denn wenn es wirklich nur marktwirtschaftlich zuginge, wäre ich weg vom Fenster. Und nicht nur ich. Es ist eine Gnade, dass ich im Literaturhaus lesen darf, dass sich unten im Literaturhaus Berlin eine Buchhandlung mit einer Wand voller Lyrik befindet. Es ist toll, dass es in den Zeitungen Feuilletons gibt, wenn auch immer weniger. Wir sind sozusagen Angehörige einer Sekte.

Rebhandl: Wie ist es bei Ihren Lesungen? Kommen auch da eher Frauen?

Adorján: Ich gebe gar nicht so viele Lesungen. Aber doch, ich würde schon sagen, es kommen mehr Frauen. Die Frauen lesen auch mehr Feuilletons, während die Männer den Wirtschafts- und Sportteil lesen. Aber das klingt wieder so verallgemeinernd und auch falsch. Ich will immer gleich widersprechen, wenn etwas verallgemeinert wird, auch von mir selbst. Aber es ist ja bekannt, dass Frauen mehr Bücher kaufen.

Rebhandl: Wir haben also ein widersprüchliches Bild: Das Lesen und die Bücher gehören den Frauen, im Betrieb dominieren aber anscheinend immer noch weiße alte Männer vom Schlag eines Martin Walser. Er erhebt seine Stimme. Im Publikum sitzen Frauen, lassen sich Bücher von ihm signieren.

Zaimoglu: Also mit "alter weißer Mann", da war ich selbst gemeint. Es ist gut, sich in den Spiegel zu sehen.

Adorján: Wie alt bist du denn?

Zaimoglu: 54.

Adorján: Von welcher Lebenserwartung gehst du denn aus?

Zaimoglu: 60 (beide lachen).

Rebhandl: Sie könnten den Kanak-Faktor für sich reklamieren und sagen: Ich bin gar nicht weiß.

Zaimoglu: Nein, nein. Ich bin weiß. Und ich bin eigentlich selbst damit gemeint, wenn ich sage, früher war das so, also ich sitze vorn und lese, Trinkglas an der Seite, manchmal wurde da auch eine riesige Flasche Wein hingestellt, als Zeichen für das Dionysische, Lustvolle. Und dann wurde dröge auf einer Frequenz vorgelesen, und schließlich kamen blöde Fragen. Das waren die üblichen Lesungen. Dann sind die Popliteraten gekommen, aber das waren wieder Männer. Ich will damit sagen, die Feuilleton-Kultur ist eine andere als die mit der größeren Kaufkraft. Ich meine, ich bin ja ein Witz, mit meinen 200, 300 Leuten bei einer Lesung. Da gibt es Frauen, die historische Romane schreiben, zu deren Lesungen nicht unter 700 Besucher kommen. Im Feuilleton versucht man zwar neue Themen und Modeerscheinungen zu erkennen, aber oft genug wird das, was außerhalb dessen entsteht, gar nicht wahrgenommen. Und da waren Frauen immer wirkmächtig.

Adorján: Die große Frage ist ja eher: Wenn Knausgård eine Frau wäre, wäre er nie verlegt worden, oder? So eine verlaberte Tagebuchprosa und dann ohne Humor, ohne Selbstdistanz, einer Frau würde man das um die Ohren hauen, man würde es auf 200 Seiten herunterkürzen und dann sagen: Wen soll denn das interessieren? Wenn er nicht so gut aussähe ...

"Ich habe dieses Buch das kompromisslos ist geschrieben, weil mir diese Harmoniesucht auf die nerven geht. Männer und Frauen können sich schon zusammenraufen."

Rebhandl: Er sieht ein wenig aus wie der Marlboro-Mann.

Adorján: Eben. Er sieht sehr gut aus, ich habe ihn einmal getroffen, und dadurch gewinnt sein Werk sehr. Er glaubt übrigens, dass die Welt darauf wartet, dass eine Frau auch so etwas schreibt wie er. Und das glaube ich eben nicht. Die Sensation ist, dass ein Mann über Belangloses schreibt, über irgendeinen Dienstag, an dem auch wieder nichts passiert ist außer Abwasch und Kopfweh.

Scholl: Wird die Wahrnehmung Ihres Buches auch davon beeinflusst, dass gerade Sie als sprachlicher Berserker, als Autor virilen Sprachvermögens, wie die Kritik bemerkt, dann über Frauen schreiben?

Zaimoglu: Mir wird meine Parteinahme verübelt. Mir wird verübelt, dass ich nicht mit akademischen Floskeln komme. Dass ich nicht mit Theorien komme, Gendertheorien. Mir wird vorgeworfen, ich wäre ein großer Schwindler, ein Betrüger, weil ich mir anmaße, als zehn Frauen Geschichten zu erzählen. Mir wird vorgeworfen, dass ich blende, dass es die ganze Zeit meine Stimme ist, die spricht.

Scholl: Die Kritik konzentriert sich dabei auf die Sprache, die Ihrem Anliegen nicht gerecht wird.

Zaimoglu: Das ist sehr entlarvend für die Kritikerinnen und Kritiker, die das schreiben. Würden sie denn am liebsten zarte, lispelnde, nette, lächelnde Frauen hören? Mir wird vorgeworfen, dass es Starkstromprosa ist. Mir wird vorgeworfen, dass ich jeweils die Frau bin in der besonderen Geschichte, und dass diese Frauen manchmal eine sehr harte Sprache, harte Bilder haben.

Adorján: Schreibst du aus der Ich-Perspektive? Schreibst du anders, wenn du als Frau schreibst und wenn du als Mann schreibst? Oder sind die Frauen auch unterschiedlich?

Zaimoglu: Sie sind unterschiedlich. Und ich schreibe anders, je nachdem, ob ich eine Frau schreibe oder einen Mann.

Adorján: Welche Frau war dir selbst am liebsten?

Zaimoglu: Valerie Solanas.

Scholl: Hat es mit Ihrem Interesse an Solanas begonnen, dass Sie die Geschichte schreiben wollten?

Zaimoglu: Also meine Schwester, meine Mutter, meine Großmutter und meine Tanten wurden immer als irre Frauen, als Frauen, die Probleme machen, dargestellt, weil sie sich bestimmte Dinge nicht gefallen ließen. Ich dachte immer, das ist aber sonderbar, weil das, was sie sagen, vernünftig klingt, und was die Männer sagen, weniger. Die kommen mit Brauchtum, mit Gesetzen, mit der Hausordnung, mit einem Regelwerk, und ich dachte: Scheiß drauf, Himmelherrgott, ist das blöd. Dann las ich Solanas' Manifest der Gesellschaft zur Vernichtung der Männer. Obwohl es in diesem Manifest keinen einzigen Satz gibt, der verkehrt wäre, hat man sie als Psychopathin bezeichnet. Was für eine kluge Frau. Und ich mag, dass sie so militant ist.

Adorján: Also müssen die Männer abgeschafft werden? Auf dem Originalumschlag ist ein Mann, der mit einer Pistole auf sein Geschlecht zielt.

Zaimoglu: Genau. Sie sagt, Männer, die mir und uns einen Gefallen tun wollen, können sich selbst vergasen lassen.

Adorján: Und du hast gerade gesagt, nichts daran ist verkehrt?

Zaimoglu: Genau. Wenn man sich einmal den jahrhundertelangen Irrsinn der Welt anschaut, der ist doch von uns Jungs gemacht. Man kommt mit Irrsinn, wenn eine Frau einmal heftig ist, aber das da draußen ist nicht Irrsinn, oder wie? Also hier am Breitscheidplatz. Wir wissen, was hier passiert ist. Durch das Fenster sieht man genau die Stelle, an der im Dezember 2016 ein Lkw in einen Weihnachtsmarkt gelenkt wurde. Das ist der Irrsinn.

Adorján: Ja, aber dadurch, dass sie Andy Warhol angeschossen hat und vielleicht auch töten wollte, hat sie ja nicht nur etwas überspitzt formuliert, sondern ist zur Tat geschritten. Da müsstest du doch eigentlich sagen, das ist nicht ganz in Ordnung.

Zaimoglu: Die Quellenlage ist klar, Andy Warhol hat Frauen gehasst und ausgenutzt, nicht nur was die Filme betrifft. Valerie Solanas kam auf die Idee, dass sie sich das nicht gefallen lassen will. Man kann bedauern, dass sie geschossen hat, aber ich kann keine Trauer empfinden, wenn Frauen zur Tat schreiten, wenn es darum geht, dem Ehemann nachts das Geschlecht abzuschneiden, wenn es darum geht, Rache zu üben. An dieser Stelle wird man sich fragen: Warum macht sich dieser Mann dafür so stark, ist er ein Masochist? Er muss sich ja selbst hassen, wenn er das gutheißt.

Adorján: Da bin ich doch eher ein, wie hast du das genannt, Harmoniehäschen.

Zaimoglu: Nein.

Adorján: Schon.

Rebhandl: Man könnte ja auch sagen, dass, was Sie machen, Literatur im besten Sinne ist, sich nämlich etwas vorzustellen, was praktisch nicht realisiert werden muss, nämlich die Männer nicht nur abzuschaffen, sondern zuerst zu entmannen, ihrer Identität zu berauben und dann zu entsorgen, womit auch die Geschichte zu Ende wäre, weil die Fortpflanzung nicht mehr garantiert wäre. Aber die Literatur kann sich das vorstellen: Was wäre, wenn Valerie Solanas wirkmächtig geworden wäre?

Zaimoglu: Es gäbe weniger Irrsinn. Wenn eine Frau Gewalt ausübt, heißt es, sie geht zu weit.

Adorján: Aber bei Männern wird es auch nicht gern gesehen, wenn die andere erschießen.

Zaimoglu: Das stimmt. Ich meine aber, wenn die Ordnung von Männern gemacht wird, wenn die Gewalt tagtäglich geschieht, dann sollte man vielleicht früher ansetzen, um Gewalt zu verunglimpfen. Ich bin nicht geneigt, Valerie Solanas als verrücktes Huhn zu beschimpfen. Ich bin aber sehr gerne bereit, erst einmal von der Gewalt, die von Andy Warhol und von der Factory ausgegangen ist, zu reden. Denn sonst haben wir es mit einer geistesgestörten Attentäterin zu tun ... Johanna, du hast am Anfang etwas sehr Wichtiges gesagt: Männer auf der Bühne reden und reden und reden.

Adorján: Mein Buch ist nicht so radikal. Ich beschreibe einfach Männer, die sehr unterschiedlich sind. Sie fallen mir oft auf in der Differenz, die es zu Frauen oder zu mir gibt. Das ist manchmal tragisch oder unangenehm, aber manchmal auch, wie ich hoffe, amüsant. Es geht zum Beispiel darum, dass Frauen nicht in der Öffentlichkeit pinkeln. Es wäre ja technisch möglich. Wenn ich ein Mann wäre, würde ich wahrscheinlich auch öffentlich pinkeln. Man fragt sich das als Frau, oder?

Scholl: Natürlich. Meine kleine Tochter hat versucht, an den Baum zu pinkeln, weil sie das bei den Jungs gesehen hat.

Rebhandl: Feridun Zaimoglu hat über die streitbaren Frauen in seiner Familie gesprochen, die ihre Stimme erhoben haben. Da liegt vielleicht ein Motiv dafür, dass jemand Autor wird. Woher kommt das bei Ihnen, dass Sie zu schreiben begonnen haben?

Adorján: Ursprünglich kommt es daher, dass ich nicht Pianistin werden wollte, ich bin ja aus einer Musikerfamilie, stattdessen habe ich Opern- und Theaterregie studiert. Dann habe ich Journalisten kennengelernt und diese beneidet, dass sie allein verantwortlich sind für ihre Fehler.

Rebhandl: Wann hat man Ihnen das erste Mal gesagt, dass Sie etwas können?

Adorján: Ich weiß das nicht. Das ist einfach mein Beruf. Manchmal ist mir auch die Öffentlichkeit daran das Unangenehmste.

Rebhandl: Wie gestaltete sich der Übergang vom Journalismus zum ersten Roman?

Adorján: Das war sozusagen ein Memoire. Es war ziemlich journalistisch, weil es viel Recherche erforderte. Es erzählte die wahre Geschichte vom Doppelselbstmord meiner Großeltern. Mir kommt es eigentlich vor wie derselbe Beruf. Ich schreibe ja nicht so wild literarisch oder übertrieben lyrisch. Deshalb kommt mir das nicht wie zwei verschiedene Sachen vor. Schreiben ist Schreiben.

Scholl: Gab es Kommentare von Lesern zu Ihren Kolumnen?

Adorján: Einmal besonders heftige, da hatte ich über meine Fahrprüfung geschrieben, bei der mein Fahrlehrer und der Prüfer mich eine halbe Stunde lang im geparkten Auto sitzen ließen, während sie ins Kaffeehaus gingen, ohne mir das vorher zu sagen. Wahre Geschichte. Auf diese Kolumne habe ich sehr viele erboste Zuschriften von Fahrlehrern bekommen. Das könne nicht sein, das hätte ich erfunden, und wie man so böse schreiben kann über einen ganzen Berufszweig. Von Frauen kamen nur nette Mails. Je länger ich die Kolumne machte, desto mehr hatte ich dann das Gefühl von einem Wir. Wir Frauen. Denn man schreibt ja so allein.

Rebhandl: Gibt es neue Anforderungen an die Rolle von Schreibenden in der Vermarktung? Hat sich da etwas im Vergleich zu früher verändert?

Zaimoglu: Ich bin ja einer, der in die Kleinstädte geht. Und ich sehe jetzt nicht so umwerfend aus, dass die Buchhändlerinnen sagen, egal was, er könnte auch aus einem Telefonbuch lesen und toll. Es ist harte Arbeit. Ich kann nicht taktieren, ich kann nicht nett werden, ich kann nicht aus irgendeinem blöden Gefühl heraus mit einem Kritiker oder einer Kritikerin zu Abend essen. Und in diesen Kleinstädten ist den Leuten völlig egal, ob Sie am vorigen Tag in der SZ oder der FAZ glänzende Besprechungen bekommen haben, sondern dort heißt es: Unterhalte mich! Und dann passiert es auch manchmal, dass einer sagt: Meine Frau hat mich hierhergeschleppt, und Sie haben mir den Abend verdorben (lachen). Oder: Müssen die Geschichten so düster sein? Haben Sie ein Problem? Das finde ich frisch. Da gibt es keinen Orchestergraben zwischen Schreiber und Publikum. Da heißt es auch: Sind Sie bescheuert, dass Sie so viel Klappergeraffel, also meinen Silberschmuck, tragen? Was soll das? Glauben Sie, dass Sie damit Eindruck auf Frauen machen? Also direkte Fragen. Die Geschichte spielt sich nicht zwischen den Buchdeckeln ab, die Geschichte ist dann ein Teil der Wirklichkeit.

Rebhandl: Haben Sie auch Lesetermine gemacht?

Adorján: Nur wenige, ich fand das so anstrengend auf der Bühne. Es geht ja doch um den Selbstmord meiner Großeltern, auch wenn es eine große Liebesgeschichte ist.

Rebhandl: Ihnen scheint direkter Leserkontakt viel zu bedeuten.

Zaimoglu: Ich schreibe aus Verzweiflung. Es ist nicht so, dass ich sagen könnte: Ich bin so lebenstauglich. Das bin ich nie gewesen. Dann schreibe ich und gehe auf Lesereisen. Ich mag das. Gestern bei der Lesung war ich eine Trümmerfrau, oder ich war Lore Lay.

Scholl: Ich finde es super, dass Sie in diese kleinen Orte gehen. Das prägt sich den Zuhörern wahnsinnig ein, auch wenn es im ersten Moment vielleicht ablehnend ist. Ich bin in einem sehr kleinen Ort aufgewachsen, und Autorenlesungen haben mich sehr beeinflusst.

Zaimoglu: Es war immer mein Wunsch. Ich bin früher im Schneidersitz vor dem Fernseher gesessen und habe mir die Sendung Aspekte angeguckt, nichts verstanden, aber die waren so apart. Theater! Oper! Mensch, dachte ich, was geht denn da ab! Es ist eine Gnade für mich, da dabei zu sein. Vielleicht ist das so eine blöde Arbeitermoral, hör auf zu flennen, denn es ist nicht so toll manchmal, in einer Kleinstadt in einer Pension zu schlafen. Aber es ist ein großes Geschenk, Bücher zu machen.

Scholl: Welche Lektüre hat Sie in letzter Zeit beeindruckt?

Adorján: Ich fand Die Jahre von Annie Ernaux toll. Das Buch wurde mir von einem Mann geschenkt. Offenbar lesen Männer Annie Ernaux. Vielleicht ändert sich da etwas. Übrigens, wenn man darüber nachdenkt, gelingt ihr auf knappem Raum, was Knausgård auf Tausenden von Seiten nicht schafft: Sie schreibt über sich und ihr Leben, den Alltag, das Leben als Mutter, was man so hörte, was man so sprach. Und weist damit weit über sich selbst hinaus, zeichnet das Bild einer ganzen Generation.

Rebhandl: Womit sind Sie literarisch aufgewachsen?

Adorján: F. Scott Fitzgerald. Philip Roth. Mehr Philip Roth.

Rebhandl: "Portnoys Beschwerden"? Eigentlich auch ein Männerbuch, dachte ich.

Adorján: Aber das macht es ja nicht schlecht. Oder Salinger. Holden Caulfield war mein Lieblingsheld in der Literatur. Lauter Männer, oder jedenfalls meistens.

Rebhandl: Kamen Frauen bei Ihnen im Leseleben vor?

Zaimoglu: Ich habe Sartre und Camus gelesen, aber die Offenbarung war Simone de Beauvoirs Die Mandarine von Paris, ein großartiges Buch über diese Angebermänner. Ich habe mich mit Simone de Beauvoir identifiziert.

Rebhandl: Wie halten Sie es mit Elena Ferrante? Eine Frau, die dem Buchmarkt eine Verkörperung entzieht. Trotzdem ein Bestseller.

Adorján: Beim Schreiben wusste sie ja nicht, dass es ein Bestseller wird. Danach kann man sich leicht Greta-Garbo-mäßig rarmachen. Das war jetzt kein Buch, das mir sehr viel gegeben hat.

Zaimoglu: Mir auch nicht. Was ist das gegen eine Inger Christensen, gegen eine Ingeborg Bachmann, gegen einen Georg Trakl.

Rebhandl: Bei Ihnen muss ich manchmal daran denken, dass Rainald Götz einmal auf die Frage nach seiner sexuellen Orientierung gesagt hat, er sei lesbisch.

Zaimoglu: Nein, ich begehre Frauen. Ich bin ein alter weißer Mann, der immer Frauen begehrt hat. Daran wird sich nichts ändern. Gestern waren zur Lesung erstaunlich viele Lesben da.

Adorján: Woher weißt du das?

Zaimoglu: Wenn sie sich küssen, dann weiß man das. So etwas gefällt mir, es waren auch einige echt Hardcore. Wenn die dann kommen und mir sagen: Nichts falsch gemacht, geht schon. Dann ist es gut. Wäre ja blöd, wenn die kämen und sagten: Du blöder Sack du.

Rebhandl: Sie wurden von der Literaturkritik hingerichtet, bekommen aber Zustimmung von Butch-Dykes.

Zaimoglu: Das Volk mag mich, die Kritik hasst mich.

Scholl: Soll "Die Geschichte der Frau" noch weitergehen? Stehen weitere Verwandlungen an?

Zaimoglu: Ich verwandle mich jeden Tag. Ich habe es satt, dass Männer über Frauen schreiben. Der Blick des Mannes auf Frauen ist zum Kotzen.

Adorján: Außer bei Tolstoi, um nur ein Beispiel zu nennen.

Rebhandl: Welche historische Epoche würden Sie wählen, Frau Adorján, wenn Sie ein Kapitel zu der Geschichte der Frau schreiben würden?

Adorján: Ganz kurz bevor das Handy kam. Frühe Neunziger.

Rebhandl: Die Phase des analogen Lebens!

Adorján: Ja. Oder kennt ihr ein gutes Buch, in dem das Wort iPhone vorkommt? (Sabine Scholl und Bert Rebhandl, Album, 30.3.2019)