Die französische Filmemacherin Agnès Varda war immens einflussreich.

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Das letzte Zusammentreffen fand in Paris im Jahr 2018 statt. Agnès Varda saß vor einer kleinen Gruppe von Filmjournalisten, um über Visages, Villages (Augenblicke: Gesichter einer Reise) zu sprechen, ihren Film mit dem Streetart-Künstler JR. Im Film geleitet sie noch einmal durch ein ländliches Frankreich, zu Hafenarbeitern und Bauern, denen sie einen szenischen Auftritt gewährt. Im Gespräch mit ihr wird keine einzige Frage gestellt. Varda plaudert drauflos, Eindrücke und Erinnerungen wechseln aufeinander, dauernd fällt ihr etwas Neues ein.

Nein, eine 89-jährige Frau unterbricht man nicht. Außerdem konnte man bei dieser Gelegenheit etwas über die Art erfahren, wie Varda Gedanken und Bilder zusammenzuführt. Sie hat dafür einen eigenen Begriff entwickelt, den der "cinécriture", ein filmisches Schreiben, das von Anfang an auch autobiografisch war. In La Pointe-Courte, mit dem sie 1955 allen Herren der Nouvelle Vague vorauseilt, verwebt sie die Geschichte eines Paares, das aneinander vorbeisieht, mit dokumentarischen Aufnahmen aus dem Alltag des Fischerdorfs. Der Tonfall des Films, der nicht in Schwermut verfällt, obwohl er vom Verschleiß des Lebens erzählt, ist schon ihrer.

Die Gruppe vom linken Seine-Ufer

Varda, geboren 1928 Ixelles, in Belgien, wuchs in Sète, einer provenzalischen Hafenstadt auf. Stets hat sie betont, dass sie kaum filmische Vorbildung besaß. Eine Freundin habe sie den Fischern aus ihrem Debütfilm vorgestellt, deren Schwester brachte sie zum Festival von Avignon unter Jean Vilar, wo sie als Fotofgrafin zu arbeiten begann. In Paris zählte sie später zum Kreis der Rive-Gauche-Gruppe um Chris Marker und Alain Resnais, den Antipoden zur bald berühmteren Cahiers-Bande um Jean-Luc Godard und François Truffaut.

Anders als die Männer richtet Varda den Blick auf sich selbst und ihr Umfeld und entdeckt dort Widersprüche, "Desaster des Lebens", wie sie einmal sagte. Im Kurzfilm L‘Opéra-Mouffe nimmt sie ihre Schwangerschaft zum Ausgangspunkt, um ihre nächste Umgebung zu erkunden. Die wechselhaften Gefühle über das neue Leben in ihrem Körper verhalten sich auch zur allgegenwärtigen Armut um sie herum, ein dicker Bauch wird mit einem Kürbis konterkariert, der in der Mitte aufgeschnitten wird.

Agnès Varda als junge Filmemacherin im Jahr 1970.
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Neugierde ist die Lust, die Varda stets antreibt. Sie will die Veränderungen ihrer Zeit verstehen, dreht Filme über so konträre Sujets wie Kuba oder die Black Panthers. Um Geschichte und die Realität durchscheinen zu lassen, hat Varda sich wohl nie auf eine Form beschränkt. Koinzidenzen haben sie geleitet, hat sie, nach ihrem Lebenskurs gefragt, gerne gesagt: "Es ist wie ein Puzzle, denn man ist sich auch selbst ein Puzzle. Wer weiß schon alles über sich?" Auch ihrer Ehe mit dem Filmemacher Jacques Demy, der an Aids gestorben ist, widmete sie einen aufrichtigen, liebevollen Film.

Die Lust am Flanieren, an unerwarteten Entdeckungen kannten selbst ihre berühmtesten Spielfilme. In Cléo de 5 à 7 vertreibt sich die Sängerin Cléo (Corinne Marchand) die Wartezeit nach einer Biopsie damit, dass sie sich durch Paris treiben lässt. Es ist ein Film über eine moderne Frau, die auf ihre Angst selbstbewusst reagiert. Wie ein situationistisches Kunstwerk nimmt der Film die Stadt physisch ein, drückt ihr seinen Stempel auf, um sie "menschenwürdiger" zu machen, wie Frieda Grafe schrieb.

Radikaler Schritt für die Freiheit

In Sans toit ni loi (Vogelfrei) lässt Varda über zwanzig Jahre später Sandrine Bonnaire einen noch radikaleren Schritt für die Wahrung ihrer persönlichen Rechte tun. Rückblickend breitet sie die Etappen aus dem Dasein einer Landstreicherin aus, die sich für eine kompromisslose Freiheit entschieden hat. Varda gewann für den Film den Goldenen Löwen von Venedig.

Als feministische Filmemacherin wollte Varda, die man fast zu lieblich "Großmutter der Nouvelle Vague" nannte, trotzdem nur bedingt gelten. "Das ist nicht wirklich ein Bild, das ich von mir habe", meinte sie einmal. Diese Zurückhaltung lag weniger in der Sache – Varda kämpfte für Chancengleichheit –, sondern daran, dass sie lieber eine Eigenbrötlerin blieb, deren Stimme man gewinnen musste.

Bis zu ihren späten Filmessays ging sie, verspielt und poetisch zugleich, vom persönlichen Standpunkt aus. Vom Hundertsten zum Tausendsten war es dann nur ein kleiner Sprung. In Les glaneurs et la glaneuse (Die Sammler und die Sammlerin) nimmt sie die eigene Passion fürs Bildersammeln zum Anlass, Leute zu finden, die es ihr mit anderen Dingen gleichtun. Auf der Unterseite des Wegwerfgesellschaft findet sie hier den Reichtum des Besonderen. Ihre Filme werden ihn weitertragen.

Am Freitag ist Agnès Varda im Alter von 90 Jahren in Paris gestorben.
(Dominik Kamalzadeh, 29. 3. 2019)