Der ORF bereitet sich auf eine "virtuelle Volksabstimmung" über sich und seine Finanzierung vor.

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Hört heute ein "klassisch österreichisches Jein zum ORF" in der Bevölkerung: ORF-Berater und Verhaltensökonom Gerhard Fehr (Fehr Advice & Partners).

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Wien – Mit Gerhard Fehr hat schon der Schweizer Rundfunk seine Gebühren gesichert – die Schweizer GIS, die dort Billag heißt und unabhängig vom Empfang eingehoben wird. Am Freitag erklärte der Vorarlberger Verhaltensökonom und Unternehmensberater, was er bisher über den ORF herausgefunden hat. "Das Bild ist nicht besorgniserregend. Aber es zeigt Handlungsbedarf", sagt Fehr. Und teils "fundamentale" Defizite – etwa in Sachen Unabhängigkeit und Empathie.

Zentrale Berater-Erkenntnisse im Überblick

  • Am höchsten unter den ORF-Angeboten ist die Identifikation des Publikums bei Ö3.
  • Unterhaltung spielt bei der Identifikation eine Schlüsselrolle.
  • Interessen der und Verständnis für Bürger – hier gebe es "deutliches Verbesserungspotenzial".
  • Unabhängigkeit vermisse die Bevölkerung – die sei aber "fundamental wichtig".

Fit für "virtuelle Volksabstimmung"

Fehr Advice & Partner hat 140 für den ORF relevante Menschen – Mitarbeiter und Mediensprecher von Parteien, Management und Stiftungsräte etwa – und dann 3.800 repräsentative Vertreter der Bevölkerung (bis 65 Jahre) online befragt, um herauszufinden, was der ORF ist und was er braucht, um eine Volksabstimmung über sich und seine Gebührenfinanzierung zu gewinnen.

Eine "virtuelle Volksabstimmung" – ORF-Chef Alexander Wrabetz rechnet nicht damit, dass die Regierung das Volk über die ORF-Finanzierung abstimmen lässt, sagte er am Freitag bei einer Präsentation des ersten "Werkstattberichts" des Beraters.

Der beginnt mit der falschen Frage, aus Fehrs Sicht jedenfalls: Sind Sie bereit, für den ORF zu zahlen? Falsch, weil: "Wenn es eine systematische Zahlungsbereitschaft für ein solches Angebot gäbe, dann wäre das kein öffentlich-rechtlicher Rundfunk. Dann könnten wir das über den Markt abwickeln."

Die Grundfrage für Fehr lautet vielmehr: "Sind die Österreicherinnen und Österreicher bereit, zu diesem öffentlichen Gut beizutragen, mit dem ORF zu kooperieren?" Oder, anders gesagt: "Hat der ORF eine Daseinsberechtigung in den Herzen der Österreicherinnen und Österreicher?" Es geht also um die Identifikation mit dem ORF.

"Klassisch österreichisches Jein zum ORF"

"Zum ORF sagen die Menschen ein klassisch österreichisches Jein", fasst der Berater zusammen: Fehrs Indexwert für Identifikation für den österreichischen Rundfunk: 4,9. Die österreichische Post liegt nach seinem Befund bei 5, die ÖBB bei 5,2, die AUA bei 4,9 und A1 bei 4,5. Der Schweizer Rundfunk kam auf 5,7, lag damit aber deutlicher hinter anderen öffentlichen Institutionen in der Schweiz – Bahn, Swissair, Post und Swisscom erreichen dort Indexwerte von 6 bis 6,4. Die Skala reicht von 1 bis 10.

Höchste Identifikation mit Ö3

Weit besser Fehrs Identifikationswert für die ORF-Programme: 6,0 für ORF 1 und 5,8 für ORF 2, Ö1 liegt bei 4,6, und den höchsten ORF-Wert schafft Ö3 mit 6,4. Servus TV spielt in Sachen Identifikation mit ORF 1 und ORF 2 in einer Liga, Puls 4 kommt auf einen Wert von 5,1, ProSieben Österreich auf 5,2 und Oe24TV auf 2,9.

"Wenn man uns schwächen will, dann nimmt man uns Ö3 weg", schließt Wrabetz daraus. Womöglich ironischer Nachsatz: "Aber uns will ja keiner schwächen."

Beziehungskitt Unterhaltung

Fehr versucht herauszuarbeiten, welche Erwartungen die (befragten) Menschen an den ORF äußern, ob und welche davon die Identifikation mit dem ORF fördern – und wie sie der ORF aus der Publikumssicht auch erfüllt.

Mehr als 90 Prozent der Befragten erwarten nach eigenen Angaben aktuelle Nachrichten, lokale Themen, gute Dokus, immerhin noch gut 80 Prozent Kulturinfos und (nur) 53 Prozent Livesport. Sie benoten den ORF in diesen Feldern sehr gut. Aber, so Fehr: "Es kann sein, dass all das nicht in die Identität einzahlt."

Umso mehr zahlen nach seinem Befund Unterhaltung ein, "abwechslungsreiches Programm" und "einzigartige Inhalte". Fehr: "Den Kernauftrag zu erfüllen reicht nicht, um die Beziehung zu stärken."

Der regionale Irrtum

Heimatverbundenheit, österreichische Kultur und Sprache, lokale Themen und Präsenz in allen Landesteilen werden dem ORF durchaus attestiert. Aber, wendet Fehr ein: "Das ist weniger identitätsstiftend als andere Punkte."

Verständnislos

"Ganz identitätsstiftend" ist demnach etwa der Umgang mit dem Publikum "auf Augenhöhe", ein ORF, der "die Menschen in Österreich versteht", der "im Dienst des Publikums" steht und "meine Interessen als Bürgerin und Bürger vertritt". Fehrs ORF-Befund: "An dem kann man arbeiten, da gibt es deutliches Verbesserungspotenzial."

Unabhängigkeit gesucht

"Fundamental problematisch" findet Fehr den Publikumsbefund zur Unabhängigkeit des ORF. "Die Österreicherinnen wollen einen unabhängigen ORF", heute aber sehen sie stets "die Politik dabei". Fehr: "Unabhängigkeit ist fundamental wichtig" für die Identifikation des Publikums. Nachsatz: "Das sagt nichts über die Qualität des Journalismus" – die werde durchaus hoch bewertet.

"Niemanden ausgrenzen"

"Extrem identitätsstiftend" ist nach Fehrs Befund, im Bild der Bevölkerung "den Zusammenhalt Österreichs" zu fördern, "niemanden auszugrenzen", "Meinungsvielfalt zu fördern" und zum "Wohl der Allgemeinheit beizutragen".

"Müssen programmlich was tun"

"Da müssen wir programmlich etwas tun", schließt Wrabetz aus dem Befund. Und wie will er mit dem drängenden wie identititätsstiftenden Wunsch nach Unabhängigkeit umgehen: "Das ist auch für mich ein Handlungsfeld", sagt der ORF-Chef und erklärt das sehr breit etwa so: "Auch im Handeln zu versuchen, unter einen Hut zu bringen, wo stärkt man die Unabhängigkeit und wo nimmt man Rücksicht auf Vielfalt." Eines aber "werden wir nicht wegkriegen: Der ORF ist eine öffentliche Institution und steht im Diskurs mit der Politik."

"Courage des ORF-Generals"

Lisa Totzauer, Channelmanagerin von ORF 1, hat sich beim ORF dafür stark gemacht, Fehr zu engagieren. Sie hat bei der Präsentation am Freitag am Kopfende des langen Besprechungstisches im Sitzungssaal der ORF-Generalintendanz Platz genommen. Vielleicht schon für den Fall, dass ORF-Generaldirektor Alexander Wrabetz tatsächlich die Nachfolge von Helga Rabl-Stadler als Präsident der Salzburger Festspiele antritt, wie der "Kurier" am Samstag berichtet. Ein Job in der Liga Operndirektor kursiert schon länger als Möglichkeit, den Sozialdemokraten an der ORF-Spitze vor Ablauf seiner Funktionsperiode (bis Ende 2021) loszuwerden.*

Totzauer kündigt an, der ORF müsse ab sofort Erkenntnisse aus der Fehr-Studie wie die passende Augenhöhe auf die einzelnen Sendungen und den Umgang mit Storys "herunterbrechen". Zusammenhalt und Füreinander-da-Sein nehme sie mit für ihre Feuerwehr-Show im Herbst. Und sie will noch "Danke sagen an die Courage des Generaldirektors, dass wir das gemacht haben" – diese Berater engagiert nämlich.

Ein bis eineinhalb Jahre

80 Prozent der Bevölkerung müssten sich mit dem ORF identifizieren, um die "virtuelle Volksabstimmung" zu gewinnen, sagt Gerhard Fehr – kümmern müsse man sich aber um 100 Prozent. Wo steht der ORF heute nach dem Befund der Berater? 70 mit Identifikation zu 30, sagt Fehr, einer seiner Mitarbeiter präzisiert auf 68 zu 32 Prozent.

Wie lange braucht ein Organismus wie der ORF nach Fehrs Erfahrung aus der Schweiz, um auf 80:20 zu kommen? Zwölf bis 18 Monate, schätzt der Vorarlberger, unter der "Grundvoraussetzung" von "Menschen an der Spitze der Institution, die das wirklich wollen und Leadership haben". Nachsatz: Den Eindruck habe er von den Führungskräften auf dem Küniglberg.

Zeitgerecht zur nächsten Gebührendebatte

Für Wrabetz passt der Zeitplan ganz gut zu jenem der Politik: In etwa zwei Jahren wolle sich die Regierung ja wieder mit der ORF-Finanzierung beschäftigen, sagt der ORF-General. Dann würden die handelnden Politiker einen ORF vorfinden, "der für Österreich noch wichtiger ist als jetzt schon".

Generalansage an Mitarbeiter

Freitagmittag präsentierten Wrabetz, Fehr und Totzauer den aktuellen Stand der Erkenntnisse hunderten ORF-Mitarbeitern auf dem Küniglberg. Sie sind allesamt Schlüsselfiguren auf dem Weg zu den 80 Prozent.

Bei der Präsentation davor erinnert Totzauer an den Termin vor der Belegschaft: "Wollen wir nicht gleich mit der Augenhöhe anfangen und die Mitarbeiter nicht warten lassen?" (fid, 29.3.2019)