Die deutsche Justizanstalt Hohenleuben von außen.

Foto: Michael Stavarič

Enge Gänge, überall Gitter, das Wort "Zwinger" ist absolut angebracht.

Foto: Michael Stavarič

Trist, grau, hohe Mauern, Wachtürme, Stacheldrahtbarrieren. Zum ersten Mal verspüre ich so etwas wie Beklemmung.

Foto: Michael Stavarič

Am besagten Vormittag bin ich zuvor in der Stadtbibliothek Greiz, mit Acht- bis Neunjährigen. Danach fahre ich zur thüringischen "Besserungsanstalt", die sich als echter Knast entpuppt. Ein altes DDR-Gefängnis, welches jedwedes Klischee bedient. Trist, grau, hohe Mauern, Wachtürme, Stacheldrahtbarrieren. Zum ersten Mal verspüre ich so etwas wie Beklemmung. Bei der Anmeldung übergebe ich dem zuständigen Sicherheitsbeamten meinen Reisepass, das muss sein. Ich solle auch mein Handy abgeben, na ja, eigentlich muss ich fast alles zurücklassen, ich werde kurz untersucht und gescannt. Ein wenig ist das alles noch wie am Flughafen. Noch fühlt es sich in etwa wie damals an, wo ich als junger Mann in die Maria-Theresien-Kaserne in Wien einrückte. Alsdann folgen unzählige Sicherheitstüren, Sicherheitsschleusen, schwere und schwerste Gittertüren, die mit riesigen Schlüsseln geöffnet und sofort wieder versperrt werden. Es ist ziemlich laut, ja es hallt überall, wenn die Türen ins Schloss fallen.

Zwinger

Nach der siebenten Gittertür habe ich aufgehört mitzuzählen. Ich folge den beiden für mich zuständigen Wärtern in den Zellentrakt. Dorthin, wo ich heute lesen werde. Und dann bin ich auch schon dort, mitten unter den ersten Häftlingen. Enge Gänge, überall Gitter, das Wort "Zwinger" ist absolut angebracht. Man nimmt mich zunächst in das Wärterzimmer mit, dort sehe ich ein großes Aquarium. Hinter Glas gehaltene Fische, mit gefangenen Menschen in unmittelbarster Nachbarschaft.

Die Wärter sind freundlich, der eine will wissen, woher ich meine Kleidung habe. Ich erzähle etwas vom Designer, Boris Bidjan Saberi, der gerne Mode macht, die er selbst als "nomadisch" erachtet. Ein wenig dystopisch seien die Kleidungsstücke wohl auch, füge ich hinzu. Absurd, mein Gerede. Ich frage nach, ob es irgendwelche Tabus gibt, ob ich etwas lieber nicht anlesen, ob ich überhaupt irgendetwas Wesentliches wissen sollte. Man teilt mir daraufhin mit, ich könne alles machen, was ich wolle, die Insassen seien ja hart im Nehmen. Ich will in Erfahrung bringen, wofür mein "Publikum" einsitzt. Die Wärter antworten ausweichend, dass man es den Häftlingen nicht ansehe – und darüber dürfen oder wollen sie auch nicht weiter reden. Die meisten verbringen Jahre hier, demnach Räuber, Schläger, Vergewaltiger, was weiß ich. Und natürlich die Leute aus der Untersuchungshaft, da weiß man nie, was die auf dem Kerbholz haben.

Mit verschränkten Armen

Es ist noch etwas Zeit bis zum Auftritt, die dafür gemeldeten Gefangenen werden gerade eingesammelt und aus ihren Zellen geholt. Es wird noch etwas dauern, ein Trakt nach dem anderen. Ich erfahre, dass sich die meisten von ihnen zu sechst eine Zelle teilen. Und dass dies übel ist. Ideal wären zwei Gefangene pro Zelleneinheit, doch ist das in diesem Gefängnisbau illusorisch. Die Zellen selbst sehe ich nicht, doch die Türen und Gitterstäbe reichen mir allemal. Es ist wahrlich kein schönes Gefängnis, ich meine, keine Ahnung, ob rein architektonisch "schönere" Gefängnisse existieren, dieses hier drückt allemal aufs Gemüt. Nur die Wärter sind es gewohnt. Viele der Insassen wohl mittlerweile auch.

Anschließend gehen wir in einen größeren Raum, ich packe meine Bücher aus und warte auf das Publikum. Nach und nach trudelt dieses ein, Gestalten, die ein jegliches weitere Klischee erfüllen, welches man aus Gefängnisfilmen kennt. Muskulöse, auftrainierte Gestalten, Gesichtstätowierungen, kahle Köpfe, Narben etc. Ein paar von ihnen nicken oder grüßen, was ich auch tue. Einer niest und sagt "Goebbels". Die meisten setzen sich allerdings wortlos hin und warten mit verschränkten Armen. Und wir warten eine ganze Weile, bis alle da sind. Und während wir warten, schauen wir einander an. Augenpaare, die mich fixieren, anders kann man das nicht nennen.

Experimentelle Prosa

Irgendwann darf die Lesung beginnen, die Wärter sind wieder da, platzieren sich in der letzten Reihe. Ich lese experimentelle Prosa. Ich lese Gedichte, auch in Wiener Mundart. Ich lese etwas aus dem letzten Roman. Ich schaue den Insassen zu, während ich lese – einige scheinen zuzuhören. Andere nicht. Ich habe keine Ahnung, wie lange ich lese, das Zeitgefühl geht ein wenig verloren, das Handy habe ich nicht mehr, um das zu überprüfen. Zwischen den Leseteilen erzähle ich etwas über mich, spreche über die Bücher, über das Schreiben. Als ich gefühlt mit allem durch bin, bedanke und verabschiede ich mich. Alle, etwa vierzig Gefangene insgesamt, applaudieren laut. Danach gehen die meisten, gut fünf kommen zu mir und schauen sich die Bücher an. Zwei davon sagen, dass sie ein Buch von mir lesen würden. Sofern sie hier in der Gefängnisbibliothek je eines zu sehen bekämen. Das sind bessere Reaktionen als in manchen Literaturhäusern, in denen ich eingeladen war.

Es ist wichtig, dass an solchen Orten (vor)gelesen wird. Als Autorin würde ich hier allerdings auf gar keinen Fall lesen wollen. Als Autor würde ich es auch nicht unbedingt jedem raten. Als Insasse würde ich es bestimmt keine Woche in dieser Einrichtung aushalten. Vermutlich nicht einmal einen Tag. Demnach: Es ist unglaublich wichtig, dass an solchen Orten gelesen, dass von Autoren und Autorinnen vorgelesen wird. Das ganze hiesige Leseprogramm besteht übrigens nur, weil sich Wärter, Sozialarbeiter und Freiwillige vor Ort engagieren. Die Greizer Bibliothekarin, die hierfür federführend ist, die mich eigentlich hätte begleiten sollen, musste kurzfristig absagen. Ich hätte wirklich liebend gern ihre Hand geschüttelt, doch just an jenem Tag beginnt ihre Chemotherapie.

Kochen und Essen

Die Wärter eskortieren mich wieder nach draußen, wir gehen an einem kleinen Gefängnisshop vorbei, wo sich die Insassen etwas kaufen können. 3,60 Euro haben sie am Tag dafür zur Verfügung. Ein Buch kostet also so viel, wie sie in einer Woche verdienen. Ich erfahre beim Hinausgehen auch noch, dass das Kochen und Essen einen hohen, ja den höchsten Stellenwert genießt. Kurz denke ich darüber nach, ob ich nicht lieber aus einem Kochbuch hätte vorlesen sollen.

Irgendwann verabschiede ich mich von den Wärtern, ich habe es tatsächlich wieder durch alle Gittertüren und Sicherheitsschleusen geschafft. Man gibt mir meinen Reisepass und das Handy zurück. Ich bin endlich wieder draußen, vor der Justizvollzugsanstalt, mache ein paar Fotos von dem gesamten Komplex, die Beklemmung bleibt nach wie vor.

Eine Gesellschaft, die Menschen wegsperrt, ist es im Grunde nicht wert, als eine solche bezeichnet zu werden. Und schon gar nicht als "human". Es ist mit das Schlimmste, was man einander antun kann. Freiheitsentzug ist ein Prozess, der nur weitere Täter und Opfer produziert, dessen bin ich mir gewiss. Wie man es anders handhaben soll, weiß ich nicht. Eine befreundete Kommissarin in Wien erzählt mir regelmäßig von ihren Fällen – sie ermittelt bei Kindesmissbrauch und betreut die Opfer. Man muss die Täter wegsperren, etwas anderes geht ja nicht. Ich weiß, dass es nicht anders geht, doch bleibt es ein Teufelskreis.

Ich komme aus dem Gefängnis

Vor einigen Tagen, während eines Radiointerviews, zitierte ein Literaturveranstalter aus einem meiner Bücher: "Ich erinnere mich an eine Geschichte, dass man mir so viel erzählt hat über den Glauben und wie gut es nicht ist, das Beste zu hoffen (...), und wer weiß, wie alles gekommen wäre, hätte ich nicht ein leises Ziehen verspürt: Ich wollte eine Geschichte." Der Protagonist des Buches wollte augenscheinlich wirklich (s)eine Geschichte. Und ich denke mir: Alle wollen doch so sehr eine Geschichte. Und alle werden mit ihrem Wollen zwangsläufig eine Geschichte.

Ich fuhr anschließend zur Buchmesse weiter, begab mich in die nächsten Interviews, Gespräche und Begegnungen. Keine Insassen, kein tristes DDR-Gefängnis mehr vor Augen, plötzlich nur noch Autorinnen und Autoren überall, auf blauen, roten und was weiß ich wie färbigen Sofas. Unzählige Bücher, Gunst und Missgunst, Preisverleihungen, Eitelkeiten, ein Sich-Suhlen in intellektuellen Äußerungen. Die einen wollen das, was die anderen haben. Diejenigen, die haben, wollen mehr. Mehr Erfolg, mehr Leserinnen und Leser, mehr Aufmerksamkeit, Ehrdarbietungen, das volle Programm.

Meine Branche feierte und bejammerte sich einmal wieder selbst, eine große und zugleich sehr kleine "Blase". Und alle dort wollen eine (Erfolgs-)Geschichte. Ich verstehe das. Ich komme allerdings aus einem Gefängnis. Die dortigen Insassen und wie wir mit ihnen umgehen, ist die weitaus wesentlichere Geschichte. (Michael Stavarič, Album, 2.4.2019)