Reform gelungen, doch die Utopie ist tot: eine mögliche Zukunft des urbanen Stadtbildes, vorgeführt am Beispiel Londons.

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Wer heute vorgibt, utopisch zu denken, macht sich zunächst einmal Sorgen: Dem Hyperkonsum scheinen in unserer Gesellschaft inhärente Grenzen gesetzt. Mit eiserner Sturheit setzen wir zum Beispiel durch das Verfeuern fossiler Energieträger die Grundlagen unserer Zukunft aufs Spiel. Die Freiheit, die schönste Mitgift unserer liberal-demokratischen Lebensform, sollte uns rasch über mögliche Alternativen belehren.

Höchste Zeit, die eigenen Angelegenheiten in die Hand zu nehmen! In allen Fragen, die die Nachhaltigkeit in den Industriegesellschaften betreffen, die Ressourcenknappheit und die Naturzerstörung, ist es nämlich seit geraumer Zeit fünf vor zwölf.

Soziologendeutsch ist in diesen Jahren, in denen es offenbar um Besinnung und Umkehr geht, um Aufmunterungen nicht verlegen. Soziale Bewegungen geben "notwendige Infusionen für jene Transformationsprozesse, mit denen soziale, technologische oder kulturelle Veränderungsanforderungen bewältigt werden".

Sätze wie diese, wie sie ein Jürgen Habermas garantiert nicht staubtrockener zu Papier gebracht hätte, entstammen der Feder von Harald Welzer. Der in Flensburg lehrende Zukunftsforscher hat ein ganzes Buch voller technokratischer Zauberformeln verfasst: "Alles könnte anders sein". Auch der Untertitel seiner Zukunftsfibel gleicht einer Vorwegnahme. Er steht über einem strahlend blauen Himmel und legt für den verantwortlichen Leser ein für alle Mal den Gebrauchswert des Buches fest: "Eine Gesellschaftsutopie für freie Menschen".

Ideal der vollkommenen Umstülpung

Tatsächlich schien seit dem Kollaps der realsozialistischen Welthälfte kaum ein Gut unverfügbarer als eben die Utopie. Das Ideal einer vollkommenen Umstülpung der Weltverhältnisse, die zum Nutzen der entschiedenen Mehrzahl der Menschen ins Werk gesetzt wird, war tot. Jeder Glaube an die Kraft von Utopien schien so peinlich überholt wie das Schwärmen für die Fuchsjagd. Wieder andere leiteten aus dem Gang der Geschichte die restlose Diskreditierung des "U"-Wortes ab. Wer mit Blick auf die Formen unseres Zusammenlebens alles anders haben will, der darf, so der stillschweigende Vorwurf, sich auch nicht darüber wundern, wenn er sich in einem Stalin’schen Gulag wiederfindet.

Gelehrte wie Welzer machen von dem ominösen Wort einen vorgeblich unschuldigen Gebrauch. Sie begrenzen seine Bedeutung. Schon ein beherzter Akt der Mülltrennung kann unter solchen Umständen die Weihen Utopias tragen.Das Wort Utopie, derart kleinspurig verwendet, meint nichts schlechthin Neuartiges mehr. Gewährsleute des Utopismus wie der Tübinger Weise Ernst Bloch würden sich heute die Augen reiben. Im vorrückenden 21. Jahrhundert enthält der Begriff Utopie garantiert keine Alternative zu dem, was ohnehin im Überfluss vorhanden ist. Überflüssig sind allein die allgegenwärtigen Konsumangebote.

Substanz des Zusammenlebens

Nichts von den zahllosen Zukunftsforschern Erdachtes, was über die Verwaltung des Status quo hinauswiese. Als möglich erscheinen vor allem Handlungsoptionen, die der neoliberale Kapitalismus bereits im Angebot führt. Er tut dies nicht um der Zukunft willen. Näher liegen ihm Profite.

Sozialpsychologen wie Welzer werden nicht müde, in ihren Schriften das "gute Leben" zu preisen. Um dessen Glücken praxisnah zu illustrieren, bemühen sie die "moralische Substanz" unseres Zusammenlebens.

Der hohe Beteiligungsgrad am kommunalen Wohlleben soll für die Verbesserung der Verhältnisse schon jetzt, vor Anbruch der Zukunft, einstehen. Im Ehrenamt, am Feuerwehrschlauch, in der dörflichen Blaskapelle. Nun ist der "Weltverbrauch", den die Menschheit sich zuschulden kommen lässt, in der Tat besorgniserregend. Das Absenken des Ausbeutungsgrades, den wir Natur und Umwelt zumuten, wird zur Aufgabe von Ingenieurskunst. Diese soll vernetzt denken können. Doch bevor man das Wort Utopie in den Mund nimmt, zimmert man es lieber um.

Projekt als Puzzlespiel

Das Weiterbauen am zivilisatorischen Projekt wird zum Puzzlespiel. Aus lauter kleinen "Transformationen" würde sich irgendwann das Bild der Utopie von selbst einstellen: ein "Mosaik gelingender Verbesserungen der Welt". Die vorgeschlagenen Projekte, die das Himmelreich auf Erden herstellen, bestehen aus Fahrradfahren. Nicht zu vergessen die vorsätzliche Beschränkung des Individualverkehrs im Umraum öffentlicher Schulen.

Die Utopie bleibt wo? Vielleicht hat Slavoj Žižek recht. Der slowenische Marathondenker glaubt, dass die Weltrevolution vor der Tür steht, weil kein Indikator auf ihre Verwirklichung hinweist. Der Titel seines neuen Buchs enthält bereits den Hinweis auf die mögliche Form ihres Erscheinens: "Wie ein Dieb bei Tageslicht". (Ronald Pohl, 31.3.2019)