Frank Richter nahm 1989 an den Demonstrationen gegen das DDR-Regime teil. Ab 2013 trat der Theologe in der Asyldebatte in Sachsen als Vermittler auf und organisierte Dialogforen. Er plädiert dafür, den "Wutbürgern" zuzuhören. Im Gastkommentar rät er aber auch, "nicht über jedes Stöckchen zu springen".

Es war vor nunmehr 30 Jahren. In Leipzig, Dresden und anderen Städten gingen zehntausende Menschen auf die Straße und bekundeten mit dem Ruf "Wir sind das Volk!" ihren Widerstand gegen die Staatsführung der DDR. Im selben Moment, in dem sie den Protest artikulierten, befreiten sie sich aus dem Korsett der Ohnmacht. Sie begannen, politische Macht auszuüben.

Es war Joachim Gauck, der Präsident der Bundesrepublik Deutschland, dem "Wir sind das Volk!" als der schönste Satz der deutschen Politikgeschichte erschien. Und in der Tat. Als die Stimme des Volkes damals sprach, brachte sie nicht nur eine über viele Jahre hinweg unterdrückte Wahrheit ans Tageslicht. Sie erzeugte zugleich die politische Realität namens Demokratie.

Die friedliche Revolution des Herbstes 1989 gehört zu den politisch intelligentesten und friedfertigsten Vorgängen in der europäischen Nachkriegsgeschichte. Sie war erfolgreich dank vieler begünstigender außenpolitischer Umstände. Vollzogen werden musste sie gleichwohl von den Menschen selbst – vom Volk, wenn man so will. Sie verlief auch deshalb gewaltfrei, weil sich viele Staatsfunktionäre vernünftig verhielten.

Härterer Ton

Seit nunmehr fünf Jahren ertönt "Wir sind das Volk!" erneut auf deutschen Straßen. Besonders laut geschieht dies in Dresden und anderen Städten der neuen Bundesländer. Obgleich es im Rahmen der freiheitlichen Grundordnung zahlreiche andere Möglichkeiten gibt, die Meinung zu äußern und die politische Willensbildung im eigenen Interesse zu beeinflussen, bedienen sich tausende Menschen dieses vertrauten Musters. An der sächsischen Landtagswahl im Jahr 2014 beteiligten sich weniger als 50 Prozent der Wahlberechtigten und bekundeten damit, das Vertrauen in das demokratische Verfahren und in die Regierung verloren zu haben.

Dass es inzwischen mit der AfD eine Partei gibt, die in den Bundestag und alle Länderparlamente eingezogen ist, wird von vielen als Beleg der Funktionsfähigkeit der demokratischen Ordnung bewertet. Andere – zu denen zähle auch ich – machen außerdem darauf aufmerksam, dass sich der Sound grundlegend verändert hat.

Hass und Verachtung

Im Jahr 1989 klang der Ruf "Wir sind das Volk!" einladend und friedfertig. Heute klingt er ausladend und aggressiv. 1989 wurde er begleitet vom Ruf "Keine Gewalt!", heute vom Angriff auf die "Altparteien", die "Lügenpresse", die "Asyltouristen", die "Volksverräter", die "Brüsseler Diktatur" und alle "links-grün-versifften Gutmenschen".

Der Hass auf die Repräsentanten des Staates und die Verachtung der liberalen und pluralistischen Gesellschaft zeigt sich nicht nur auf den Straßen. Er äußert sich genauso unmissverständlich in den Reden maßgeblicher AfD-Politiker.

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Volkes Stimme besteht aus vielen Stimmen, nicht nur aus "vox Rindvieh".
Foto: Andreas Rentz/Getty Images

Wie reagieren? Drei Hinweise

Den Ursachen dieser besorgniserregenden Verschlechterung des politischen Klimas nachzugehen ist an dieser Stelle nicht möglich. Hinsichtlich der Reaktion erlaube ich mir drei Hinweise. Ich tue dies nach jahrelangen Bemühungen um die Qualifizierung des politischen Diskurses, die ich als Direktor der Sächsischen Landeszentrale für politische Bildung und als Kandidat für das Amt des Oberbürgermeisters in Meißen angestellt habe:

· Geschäftsmodell Provokation Die Provokation gehört zum Geschäftsmodell der Neuen Rechten. Sie verschiebt die Grenzen des politisch Sagbaren, um sich die Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit zu verschaffen. Sie pflegt diverse Opfernarrative, die das Recht und die Pflicht zum Widerstand begründen sollen. Einzelne Gegner sind dabei austauschbar; der Kampfmodus als solcher nicht. Dahinter steckt die Strategie der Destabilisierung der staatlichen Ordnung. Vorhandene Ängste werden aufgeblasen; Schrecken werden verbreitet.

· Dilemma der offenen Gesellschaft Demokraten, die für die liberale, pluralistische und grundsätzlich offene Gesellschaft eintreten, befinden sich in einem Dilemma. Erwidern sie die Angriffe und Provokationen mit offensiver Verteidigung und Gegenangriffen, bedienen sie das Bedürfnis der Neuen Rechten nach Aufmerksamkeit und Kampf. Vermeiden sie die Auseinandersetzung, riskieren sie, missverstanden und missbraucht zu werden.

In diesem Dilemma steckt allerdings auch die Neue Rechte. Verhält sie sich seriös, wird sie für viele ihrer Anhänger uninteressant. Treibt sie die Provokation auf die Spitze, demaskiert sie sich. Folglich ist es empfehlenswert, nicht über jedes Stöckchen zu springen. Auch der Abbruch eines Gesprächs, das vom Gegenüber erkennbar nicht mit dem Ziel der Verständigung geführt wird, ist eine Form vernünftiger Kommunikation.

· Stärke der Demokratie Es ist nicht das erste Mal, dass politische Kräfte auftreten, die die freiheitliche Demokratie mit den Mitteln derselben abzuschaffen versuchen. Diese Beobachtung sorgt besonders in Deutschland für große Unruhe. Die Konsequenz muss sein, das in der Bevölkerung verlorengegangene Vertrauen zurückzugewinnen. Dies kann gelingen durch persönliche Anhörungen, durch Versachlichung, Argumentation sowie durch die Entwicklung konkreter Lösungen. Man braucht Geduld und einen langen politischen Atem. Ich persönlich habe mich immer wieder daran erinnert, dass die Stärke der Demokratie im Konfliktfall besonders deutlich hervortritt und dass dieser nicht nur starke Demokraten braucht, sondern diese auch hervorbringt.

Demokraten sollten dem Volk aufs Maul schauen, ihm aber nicht nach dem Munde reden. Die Stimme des Volkes ist weder eindeutig "vox Dei" noch ausschließlich "vox Rindvieh". Die Stimme des Volkes, von dem alle staatliche Gewalt ausgeht, besteht aus vielen Stimmen. Die Demokraten sollten sie hören, ernst nehmen, aufnehmen und ihnen immer dann, wenn es nötig ist, laut widersprechen. (Frank Richter, 29.3.2019)