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Brexit-Unterstützer vor dem britischen Parlament, fordern trotz der erneuten Abstimmungsniederlage nicht aufzugeben.

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Pro-Brexit-Demonstranten gönnten sich nach der Wahl einen Schluck.

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"Alle Augen sind auf das britische Parlament gerichtet." Es war der EU-Chefunterhändler Michel Barnier, der zu Beginn dieser Woche den Satz sagte. Am Freitagnachmittag gilt er noch immer. Es ist der Nachmittag jenes Tages, den Großbritannien vor mehr als zwei Jahren als Endpunkt seiner 46-jährigen Mitgliedschaft in der Gemeinschaft festgelegt hatte. Es sollte, so sah es die Regierung von Premierministerin Theresa May vor, ein Freudentag sein; manche redeten gar von "Befreiung" aus dem Joch der Brüsseler Bürokratie.

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Doch von Champagner war in London am Freitag keine Spur. Stattdessen gibt es das wohlbekannte, wenn auch für einen Freitag ungewohnte Ritual zu besichtigen: Durch den Plenarsaal schallen die gleichen Begriffe wie seit Monaten: Brexit! Furchtbarer Vertrag! Verrat! Kapitulation! Regierungsversagen! No Deal! Irische Grenze! Backstop! Kompromiss! Wobei: Kompromiss? Wirklich?

Zum dritten Mal hat die Regierungschefin auf Abruf dem Parlament jenen Austrittsvertrag vorgelegt, den sie im November mit den verbleibenden 27 EU-Mitgliedern abgeschlossen hatte. Als es zur Abstimmung geht, geben sich die Abgeordneten kompromisslos wie zuvor: Zum dritten Mal lehnen sie den Vertrag ab, mit 344 zu 286 Stimmen. In Trümmern liegt damit die Strategie, mit der May am Mittwoch die Hardliner in ihrer Fraktion gefügig machen wollte: Sie knüpfte ihren vorzeitigen Rücktritt an die Verabschiedung des Deals. Mays Schicksal ist dennoch besiegelt – der Ausgang des Brexit-Ringens bleibt aber offen.

"No Deal" ist wahrscheinlich

Es ist das Ende einer Woche, die schon zehn Tage zuvor begann. Spätestens eben am 29. März, müsse das ausscheidende Mitglied dem vorliegenden Vertrag zugestimmt haben, beschloss am vergangenen Freitag der Europäische Rat in Brüssel. Dann könne Großbritannien am 22. Mai geordnet die Union verlassen. Andernfalls stehe am 12. April der Chaos-Brexit ("No Deal") am Horizont. Eine Woche später ist klar, so finden Stefaan de Rynck, engster Mitarbeiter von EU-Chefunterhändler Barnier, und Professorin Sara Hagemann von der London School of Economics (LSE) übereinstimmend: "No Deal ist ein wahrscheinliches Szenario."

Die Dänin und der Belgier sprechen auf einer Konferenz des Thinktanks UK In A Changing Europe, die an diesem Tag im "Queen Elizabeth II"-Zentrum steigt, einem Betonkasten schräg gegenüber dem neugotischen Palast von Westminster. Aus den Wortmeldungen der anwesenden Briten, EU-Freunde wie -Gegner gleichermaßen, spricht Unglaube: Wird es die Gemeinschaft wirklich zu der wirtschaftlichen und politischen Katastrophe kommen lassen, die das chaotische Ausscheiden bedeuten würde? "Das käme einem Handelskrieg gleich", behauptet Faisal Islam vom TV-Sender Sky und macht ihnen Mut: "Der Europäische Rat wird einen Weg finden, um No Deal zu vermeiden."

Die Szenen vom Freitagmittag verdeutlichen die Mischung aus Hochmut, Tollkühnheit und Unkenntnis, mit der weite Teile der britischen Öffentlichkeit die zunehmend ernster werdende Lage betrachten. Auf kuriose Weise verbindet dies die beiden Lager, die seit der knappen Brexit-Entscheidung (52 zu 48 Prozent) vom Juni 2016 eher noch weiter auseinandergedriftet als zusammengerückt sind. Die Wortmeldungen im Parlament untermauern den Eindruck. Wer damals den Brexit befürwortete und von enger wirtschaftlicher Zusammenarbeit in Binnenmarkt und Zollunion sprach – vergleichbar mit Norwegen oder der Schweiz -, plappert heute gern den Slogan "No deal, no problem" nach.

Umgekehrt haben sich auch die Brexit-Gegner radikalisiert. Redeten sie vor zwei Jahren noch einem weichen Austritt das Wort, beharren sie jetzt auf einem zweiten Referendum, befürworten gar die Rücknahme des Scheidungsantrags und Verbleib in der EU.

Brexit-Wortführer Nigel Farage rechnet offenbar nicht mit einem Austritt am 12. April. "Eine Verlängerung (der EU-Mitgliedschaft, Anm.) und weitere Kämpfe scheinen jetzt unausweichlich", twitterte er am Freitag. "Wir sind nicht niedergeschlagen, und wir werden sie wieder bekämpfen", betonte der Chef der "Brexit Party".

Österreichs Bundeskanzler Sebastian Kurz hat die neuerliche Ablehnung des Austrittsabkommens kritisiert. "Das ist eine schlechte Entscheidung und macht das Chaos nur noch größer." Vizekanzler Heinz-Christian Strache meinte, es gebe "eine gewisse Frustration auf beiden Seiten". "Man kennt sich nicht mehr aus", so Strache.

"In einer Extremsituation"

Für kommenden Montag plant das Unterhaus den zweiten Teil einer Reihe von nichtbindenden ("indicative") Testabstimmungen, um so die Möglichkeit zu einem Kompromiss über den verschobenen EU-Austritt auszuloten. Um dafür der Regierung die Herrschaft über die Tagesordnung zu entreißen, hat sich eine überparteiliche Allianz hinter dem früheren Tory-Kabinettsminister Oliver Letwin versammelt. "Wir befinden uns in einer Extremsituation", begründet der milde auftretende Doktor der Philosophie sein Vorgehen. Eine erste Abstimmungsrunde am Mittwoch hat keine Mehrheit ergeben, aber den Weg zu einem Kompromiss gewiesen: Für den Verbleib in einer Zollunion mit der EU fehlten lediglich acht Stimmen. Ob diese sich übers Wochenende finden lassen?

Es droht nichts weniger als der "nationale Notstand". Der dramatische Begriff stammt aus dem seinerseits historischen Appell, den die Chefinnen des Industrieverbandes CBI, Carolyn Fairbairn, und des Gewerkschaftsverbandes TUC, Frances O'Grady, vergangene Woche an Regierungschefin May richteten. No Deal müsse unbedingt vermieden werden: "Der Schock für unsere Volkswirtschaft wäre mehrere Generationen lang spürbar."

Vor dem Parlament treffen nachmittags jene Brexit-Enthusiasten ein, die auf Anregung des früheren Ukip-Vorsitzenden Nigel Farage seit einigen Tagen vom nordenglischen Sunderland aus etappenweise in die Hauptstadt marschiert sind. Auf der Kundgebung ist viel von Verrat die Rede, dunkle Drohungen über "zivilen Ungehorsam" machen die Runde. Kompromissbereitschaft? Nicht zu sehen. (red, Sebastian Borger aus London, 29.3.2019)