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Tenzin Gyatso, der 14. Dalai Lama, wurde 1935 in Nordtibet geboren. Wo der nächste Dalai Lama "wiedergeboren" wird, ist Anlass für Streit.

Foto: Reuters

Es war eine Einladung zu einer Theateraufführung, die das Fass in Lhasa vor 60 Jahren zum Überlaufen gebracht hat. Der Dalai Lama sollte am 10. März ins Lager der Volksbefreiungsarmee (PLA) Chinas kommen. Ohne übliche Gefolgschaft, nur mit ein paar unbewaffneten Leibwächtern. Damals war die PLA seit acht Jahren in Lhasa, der damals 24-jährige Dalai Lama hatte mit Chinas Kommunisten kooperiert.

In Lhasa verbreitete sich das Gerücht über eine bevorstehende Entführung ihres religiösen und politischen Oberhaupts nach Peking wie ein Lauffeuer. Am Morgen des 10. März versammelten sich zehntausende Tibeter um seinen Palast, um ihn daran zu hindern, zum Camp zu gehen – so wird sich der Dalai Lama später erinnern. China besteht bis heute darauf, dass die Massen von der tibetischen Regierung dazu gezwungen wurden.

Es ist nur ein Aspekt der sino-tibetischen Geschichte, zu der es zwei Versionen gibt. Fakt ist, dass es in jenem März zu blutigen Zusammenstößen kam. Wie viele Opfer diese in den folgenden Tagen forderten, ist bis heute ungeklärt. In der Nacht zum 16. März verließ der Dalai Lama, als Soldat verkleidet, Lhasa in Richtung Indien. Zwei Wochen später, am 30. März, erreichte er das indische Exil.

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Der Dalai Lama und seine Entourage auf der Flucht aus Tibet.
Foto: AP

60 Jahre später weiß man, dass die CIA zumindest indirekt in die Flucht involviert war. Die Tibeter, die ihn nach Indien eskortieren, waren von der CIA ausgebildet und mit Waffen ausgestattet worden. Mittelsmann war der ältere Bruder des Dalai Lama. Ob er davon wusste – auch das ist ungeklärt.

Indien gewährte dem jungen "Gottkönig" Asyl, und tausende Landsleute folgten ihm ins Exil. Er wollte die Regierungsgeschäfte nur so lange vom nordindischen Dharamsala aus verrichten, bis er wieder nach Tibet zurückkann. 60 Jahre später ist er aber immer noch da.

"Am Anfang war der Flüchtlingsstatus in Indien für viele okay", meint die Tibetologin Françoise Robin vom Pariser Inalco-Institut. "20 Jahre lang kann man das machen." Aber mittlerweile leben in Indien Tibeter in dritter Generation, ohne ein Bankkonto eröffnen, Land kaufen oder verreisen zu können. Immer mehr Flüchtlinge wollen daher nach Europa oder in die USA.

Wirtschaftsboom in China

Und China boomt, der ökonomische Lebens-Standard in der Tibetischen Autonomen Region (TAR) ist oft viel besser als der von Flüchtlingen, auch in Europa, erzählt Robin. Früher haben die Tibeter, die es in den Westen geschafft haben, Geld nach Tibet geschickt. Heute sei das manchmal umgekehrt. Laut Exilregierung sind 2018 nur 80 Tibeter aus Tibet nach Indien gekommen. Dharamsala begründet das mit der starken Überwachung der Grenze seit den blutigen Unruhen in Tibet 2008.

In der Tat ist die Überwachung in der TAR, vor allem in Lhasa, enorm. Laut chinesischer Führung können Sicherheitskräfte in Lhasa binnen weniger Minuten überall eingreifen. In Tibet ist es verboten, ein Bild des Dalai Lama zu besitzen. Für China ist er ein Staatsfeind und Separatist. Um über ihn zu sprechen, verwenden Tibeter oft codierte Sprache. Politik wird in Gesprächen meist ausgespart. "Die Überwachung geht so weit", sagt Robin, "dass ich hier in Frankreich im Interview manches nicht erzähle, weil ich Angst habe, zu viele Tricks zu verraten." Manchmal könne man bestimmte Regeln übertreten, manchmal nicht. Wann, sei willkürlich. So sagt oder tut man lieber gar nichts. "Der Staat muss gar nicht viel machen, das meiste wird per Selbstzensur geregelt."

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Sicherheitskräfte wollen nicht, dass ein Reuters-Journalist im März Fotos am Geburtsort des Dalai Lamas in Nordtibet macht.
Foto: Reuters/THOMAS PETER

Und China will auch kontrollieren, wer der nächste Dalai Lama wird. Obwohl der heute 84-Jährige 2011 alle politischen Ämter zurückgelegt hat und mit Lobsang Sangay an der Spitze eine demokratische Regierung gewählt wurde, gilt er weiterhin als wichtiges politisches Symbol.

Living-Buddha-IDs in China

So wird es in Zukunft wohl mindestens zwei Dalai Lamas geben – einen von China gestellten und einen von der Exilregierung. Die Dalai-Lama-Linie basiert auf dem Glauben an die Wiedergeburt. In China muss heute schon jede Reinkarnation wichtiger Religionsführer von der kommunistischen Führung per "Living Buddha"-ID abgesegnet werden. Erst Mitte März hieß es wieder vom chinesischen Außenministerium: "Reinkarnationen von 'Living Buddhas', inklusive des Dalai Lama, müssen den chinesischen Gesetzen entsprechen."

Die tibetische Exilregierung und der Dalai Lama weisen diesen Anspruch zurück. "Es wäre, als würde Fidel Castro den nächsten Papst wählen und dann sagen: 'Alle Katholiken müssen dem nun folgen'", sagte Premier Sangay 2015. Nur die Tibeter – in Absprache mit den hohen tibetischen Lamas – könnten das entscheiden.

Von Lamas und Gegen-Lamas

Wie verheerend ein solcher Politstreit ausgehen kann, sah man in der Frage des Panchen Lama. 1995 anerkannte der Dalai Lama vom Exil aus einen Jungen in Tibet als Wiedergeburt. Er verschwand daraufhin. Wenn er noch lebt, ist er heuer 30 Jahre alt. Der chinesische Gegen-Panchen gilt als Marionette Chinas.

Der von China aufgestellte Panchen Lama nahm im März an einer Konferenz in Peking teil.
Foto: AFP/GREG BAKER

Aber auch an innertibetischen Machtkämpfen scheiden sich die Lamas: Momentan gibt es auch zwei Karmapa Lamas. Einer ist vom Dalai Lama anerkannt, der andere von einer innertibetisch rivalisierenden Gruppe. Indien hält den 33-jährigen Dalai-Lama-Kandidaten für einen Spion Chinas. Erst vor kurzem durfte er in die USA reisen, wo er kurzerhand einen Pass der Dominikanischen Republik annahm. Es könnte also auch innerhalb der Tibeter zu mehreren Dalai-Lama-Anerkennungen kommen.

Vielleicht werde er gar nicht wiedergeboren, versucht der Dalai Lama Kontrolle über seine Reinkarnation zu behalten. Wenn, dann wahrscheinlich in Indien. Voraussichtlich aber nicht in China. "Falls ihr in der Zukunft zwei Dalai Lamas seht", sagte er im März, "dann wird niemand dem chinesischen trauen." Oder: Der Dalai Lama wählt seinen Nachfolger zu Lebzeiten aus. Auch das ist möglich. Der 15. Dalai Lama wäre dann keine "Wiedergeburt", sondern eine "Emanation". Es gibt Gerüchte, dass der Prozess der Findung bereits im Laufen sei.

Die meisten Tibeter glauben nicht mehr daran, dass der Dalai Lama nach Tibet zurückkehren wird. Aber sie sagen sich, so Robin: "Wenn wir die Hoffnung verlieren, haben wie alles verloren." (Anna Sawerthal, 30.3.2019)