"Alles, was auf Kinzen passiert, basiert auf Entscheidungen von Menschen": Gründerin Àine Kerr über ihre News-App.

Foto: Screenshot Kinzen

Kinzen-Gründerin Áine Kerr und ihr Team haben eine Nachrichten-App entwickelt, die gänzlich ohne Algorithmen auskommt und ausschließlich mit menschlichen Entscheidungen arbeitet. Kerr spricht beim Journalismusfestival in Perugia (3. bis 7. April) über ihre Idee und die Entwicklung neuer Medienmodelle.

Menschen statt Algorithmen

Wie würde die Medienwelt aussehen, wenn man noch einmal von vorne begänne? Wenn Medien eine ausschließlich menschliche Agenda hätten, die nicht von Algorithmen gesetzt wird? Diese Frage hat sich die Kerr, ehemals Global Head of Journalism Partnerships bei Facebook, gestellt. Um eine Antwort zu finden, hat sie es ausprobiert – und zusammen mit Mark Little, dem Gründer von Storyful, und Paul Watson, dem ehemaligen CTO von Storyful, die News-App Kinzen gegründet.

Onlineplattformen sind heute als Nachrichtenquelle nicht mehr wegzudenken: Knapp zwei Drittel der 16- bis 29-Jährigen konsumieren Nachrichten primär auf diesem Weg. Die Altersgruppe 30 bis 60 nutzt zwar daneben auch gerne noch Alternativen wie Zeitung oder Fernsehen, doch auch hier werden Onlineplattformen eine immer beliebtere Nachrichtenquelle – die neben all ihren Vorteilen auch Risiken birgt, denn wer seine Nachrichten ausschließlich von Onlineplattformen bezieht, könnte sich bald in einer Filterblase wiederfinden, die den eigenen (Nachrichten-)Horizont einschränkt. Algorithmen bestimmen auf Basis des Nutzerverhaltens, welche Nachrichten diesen erreichen und welche nicht. Onlineplattformen haben also die Kontrolle über den Newsfeed ihrer Nutzer.

Kontrolle über den Newsfeed

Genau hier soll Kinzen ansetzen. Kerr und ihr Team wollen den Nutzern die Kontrolle über ihren Newsfeed zurückgeben und ihnen so ermöglichen, ihre Filterblase zu verlassen. Gelingen soll das durch eine Auswahl an geprüften Nachrichtenquellen, aus der sich der Nutzer der App seinen persönlichen Newsfeed selbst zusammenstellen kann. Dabei komme Kinzen vollständig ohne Algorithmen aus, erklärt Kerr: "Alles, was auf Kinzen passiert, basiert auf Entscheidungen von Menschen."

Diese Menschen sind einerseits die Nutzer. Sie spielen eine essenzielle Rolle im Konzept von Kinzen, denn sie sind es, die bewerten, welche Nachrichten interessant oder weniger interessant, glaubwürdig oder zweifelhaft sind. Außerdem können sie "ihren" Content insofern personalisieren, als dass sie unterschiedliche Filter und Kontrollen zur Selektion der angezeigten Nachrichten einsetzen können. Einen "menschlichen Algorithmus" nennt Kerr diese Vorgehensweise. Die Nutzer sind also sozusagen ihr eigener Algorithmus.

Objektiv im Kollektiv

Bevor die Nachrichtenquellen – lokale und globale, neue und etablierte, breitgefächerte und Nischenmedien – auf Kinzen zur Verfügung stehen, werden sie aber trotzdem vorselektiert. Auch diese Entscheidung trifft ein Mensch: Der sogenannte Community-Editor bewertet Quellen nach unterschiedlichen Kriterien, etwa danach, ob sie eine Kernkompetenz haben und auch zu dieser stehen, oder ob sie ein tieferes Verständnis für das jeweilige Thema fördern. Ausgeschlossen sind etwa solche Quellen, die ihren wahren Zweck nicht preisgeben, oder solche, die mithilfe von Bots Konversationen auf sozialen Netzwerken beeinflussen.

Die Frage, wie man die Objektivität von Kinzen garantieren könne, wenn Quellen nach dem subjektiven Empfinden eines Einzelnen ausgewählt werden, beantwortet Kerr mit "Zusammenarbeit": Bei der Auswahl der Quellen würde man nicht nur mit der Community, die neue Quellen vorschlagen und bestehende bei mutmaßlicher Unzulänglichkeit melden kann, zusammenarbeiten, sondern auch mit Factchecking-Organisationen und -Redakteuren.

Menschlich walten, maschinell schalten

Gänzlich auf Technologie verzichten wolle man außerdem auch bei Kinzen nicht. Sich die besten menschlichen Werte zunutze zu machen, um das Potenzial von maschinellem Lernen zu entfalten, das sei ihre Mission, erklärt Kerr: "Wir glauben, dass die Gesellschaft eine neue Art von Technologieunternehmen braucht – eine, die die Menschen bestärkt, nicht umgekehrt."

Kerr und ihr Team finden, dass die Zeit für eine solche Technologie reif ist: "Menschen sind das endlose Scrollen leid. Sie distanzieren sich mehr und mehr von der Ablenkung, die auf Social Media herrscht." Kinzen wolle den Menschen eine "gesunde Nachrichtenroutine" bieten, die sie vor einem Nachrichten-Overflow bewahrt und gleichzeitig ihren Horizont erweitert.

Elektronischer Fußabdruck

Immer mehr Menschen würden sich außerdem Gedanken über ihren elektronischen Fußabdruck und Onlinewerbung mittels Targeting machen. Dieses steigende Bewusstsein und der Drang, die Kontrolle über Content zurückzubekommen, würden die Bequemlichkeit, sich den vorselektierten und den eigenen Interessen entsprechenden Filterblase hinzugeben, überbieten.

Kinzen steht noch am Anfang. Im Oktober starteten Kerr und ihr Team die ersten Versuche mit einer Entwicklerversion, seit Jänner gibt es die App im App-Store. An einer Version für Android wird noch gearbeitet. Ob sich dieser neue Ansatz einer Nachrichtenplattform durchsetzen wird, ist also noch offen. Aktuell beschränkt sich das Angebot von Kinzen weitestgehend auf Medien aus Irland, Großbritannien und den USA. Um die App auf weitere Länder auszuweiten, müsse noch an der Vorgehensweise bei der Auswahl der Quellen gefeilt werden.

Àine Kerr und ihr Team sind von ihrer Idee überzeugt. Erklärtes Ziel: Menschen dabei zu helfen, Desinformation, Manipulation und dem endlosen Scrollen auf Onlineplattformen zu entkommen und ihnen einen einfachen und von ihnen kontrollierten Zugang zu Qualitätsjournalismus zu bieten. Kerr: "Es ist Zeit für 'Personal News'. Und sie sind gekommen, um zu bleiben." (Laura Schott, 4.4.2019)