Als der serbische Präsident Aleksandar Vučić in der südserbischen Stadt Niš kürzlich des Beginns der Nato-Intervention in Serbien und im Kosovo vor 20 Jahren gedachte, sagte er: "Ja, es war ein Verbrechen!" – ohne freilich die Verbrechen an den Zivilisten im Kosovo zu nennen, die zu der Nato-Intervention geführt hatten und die durch die Nato-Intervention gestoppt wurden. "Serbische Zivilisten, unsere Kinder, waren ein erlaubtes Ziel der Nato-Aggression", wetterte Vučić. Rechtsradikale verbrannten indes Nato- und EU-Flaggen in Belgrad.

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Aleksandar Vučić (Mitte) in der südserbischen Stadt Niš.
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In Prishtina lobte Premier Ramush Haradinaj hingegen den Schlag der Nato gegen strategisch wichtige Einrichtungen des Milošević-Regimes, der einige Monate später zu dessen Fall und zum Ende der Apartheid-Politik gegenüber den Kosovo-Albanern führte. "Es ist wunderbar, dass die Menschen im Kosovo frei sind und Kinder zu Hause aufwachsen können und in ihre Schulen gehen können, und das ist nur dank der Luftangriffe der Nato möglich", sagte Haradinaj – freilich ohne zu erwähnen, dass während und nach dem Krieg serbische und albanische Zivilisten Opfer von UÇK-Attacken wurden.

Albaner und Serben Seite an Seite

Die Erinnerung an den Kosovo-Krieg ist noch relativ frisch, umso mehr prägt sie die Sicht auf die gesamte Geschichte der Region. Sämtliche historischen Ereignisse werden durch die Brille der 1990er-Jahre gesehen und nationalpolitisch interpretiert. Das spiegelt sich auch in den Geschichtsbüchern wider.

Der kosovarische Historiker Shkëlzen Gashi hat in seinem Buch "Die Geschichte von Kosovo in den Geschichtsbüchern von Kosovo, Albanien, Serbien, Montenegro und Mazedonien" die Erzählstränge für die diversen Epochen analysiert.

Er schreibt etwa, dass sich die Lehrbücher des Kosovo und Albaniens zur zweihundertjährigen serbischen Herrschaft im Kosovo (1216–1415) nur auf die Herrschaft von Stefan Dušan (1331–1355) konzentrieren, die zudem ausschließlich negativ dargestellt wird. In keinem der Lehrbücher, auch in jenem von Serbien, wird erwähnt, dass im Imperium von Stefan Dušan gerade die Albaner eine große Rolle spielten. In der Armee des Königs, die Nordgriechenland eroberte, waren etwa hauptsächlich Albaner. Auffallend ist demnach, dass jene Geschehnisse, in die Serben und Albaner gemeinsam involviert waren, einfach ausgelassen werden. Damit soll offenbar das Trennende in den Vordergrund gerückt werden.

Gemeinsam bei der Schlacht am Amselfeld

Besonders spannend ist das, wenn es um die Schlacht auf dem Amselfeld 1389 geht. Viele Kinder in Südosteuropa werden nicht darüber aufgeklärt, dass auch Albaner an der Schlacht gegen die Osmanen teilnahmen – denn dies wird in den serbischen, montenegrinischen und mazedonischen Lehrbüchern nicht dargestellt. In den kosovarischen und albanischen Geschichtsbüchern wird erwähnt, dass der Albaner Millosh Kopiliq Sultan Murat getötet habe, in den serbischen, montenegrinischen und mazedonischen Lehrbüchern wird der Serbe Miloš Obilić als der Mann genannt, der den Sultan umbrachte. Nur in einem Schulbuch, nämlich jenem für den Kosovo in der siebenten Stufe, wird erwähnt, dass der, der Sultan Murat tötete, sowohl Serbe als auch Albaner als auch Walache als auch Ungar gewesen sein kann. Gashi zeigt zudem auf, dass wahrscheinlich auch auf der Seite der Osmanen damals sowohl Serben als auch Albaner mitgekämpft haben.

Der Politologe kritisiert weiters, dass hinter den Aufständen, die Skanderbeg anführte, nationale Motive genannt werden, obwohl es eigentlich um religiöse Fragen ging oder um Rachefeldzüge, weil Skanderbegs Vater aufgrund der Weisung des Sultans getötet worden war. Erwähnt wird auch nicht, dass bei der Versammlung in Lezha auch die slawische Crnojević-Familie dabei war und dass der zweiköpfige Adler, den Skanderbeg in Kruja zum Symbol machte, der byzantinische Adler war, genauso wie übrigens jener Adler, der heute auf dem serbischen Wappen zu finden ist. Der Adler verbindet also eigentlich alle Staaten und Gesellschaften, die sich auf ihn berufen. Keines der Lehrbücher erwähnt, dass Skanderbeg mit der adeligen Serbin Vojsava Branković verheiratet war und ihre gemeinsamen Kinder orthodoxe und slawische Namen erhielten wie Konstantin, Gjergj und Jela.

Freud und Leid teilen

Genauso wenig wird erwähnt, dass im Jahr 1822 Muslime und Christen, Albaner und Serben gemeinsam eine Protestpetition an die osmanischen Behörden richteten, um die Absetzung des tyrannischen Maliq Pasha Gjinolli zu fordern. Gashi erinnert in diesem Zusammenhang auch an den serbischen König Petar Karađorđević, der im Oktober 1912 sagte: "Meine Armee wird sich im Alten Serbien mit christlichen und muslimischen Serben treffen, die uns gleichermaßen teuer sind, aber auch mit christlichen und muslimischen Albanern, mit denen unsere Leute für 13 ununterbrochene Jahrhunderte Freude und Leid geteilt haben. Wir werden euch Freiheit, Brüderlichkeit und Gleichheit für alle bringen."

Der nationalistische Diskurs vieler Staaten in Südosteuropa wird in Geschichtsbüchern reproduziert.
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Auffällig ist auch, dass der Begriff "Genozid" in Schulbüchern in Südosteuropa inflationär verwendet wird. So wird die Eroberung des Kosovo durch serbische Truppen am Ende des Ersten Weltkriegs als "Terror und Genozid" in den kosovarischen Lehrbüchern beschrieben. Auf der anderen Seite wird die Ankunft der serbischen Truppen in den serbischen Geschichtsbüchern als "Befreiung" beschrieben, ohne die grausame Behandlung von Albanern durch die serbischen Truppen zu erwähnen.

Auslassen oder übertreiben

Ähnlich unausgewogen ist die Beschreibung der forcierten Auswanderung von Albanern zwischen 1945 und 1966, die von den jugoslawischen Behörden vorangetrieben wurde. In den serbischen und montenegrinischen Lehrbüchern findet man kein Wort darüber, in den kosovarischen und albanischen Lehrbüchern werden die Zahlen übertrieben.

Auch die Streiks und Proteste im Kosovo 1988 werden in den serbischen Geschichtsbüchern nicht erwähnt. Die Aufhebung des Autonomiestatus des Kosovo, die für die Eskalation entscheidend war, wird in den serbischen und mazedonischen Büchern gar nicht angeführt. Keines Wortes wert ist auch die Deklaration des kosovarischen Parlaments vom 7. September 1990 zur Schaffung einer Republik Kosovo innerhalb Jugoslawiens. Auch das Parallelsystem in der Bildung, dem Gesundheitswesen, den Medien, der Kultur und dem Sport, das unter der Führung der kosovarischen Partei LDK geschaffen wurde, findet keinen Niederschlag in diesen Geschichtsbüchern.

Unausgewogene Wortwahl

In den albanischen Geschichtsbüchern werden die Menschenrechtsverletzungen durch das serbische Regime als "Genozid" bezeichnet. In den serbischen Geschichtsbüchern werden die Menschenrechtsverletzungen gar nicht erwähnt. Die Eskalation der Situation im Kosovo wird dort als Konsequenz von Konfrontationen zwischen "albanischen Terroristengruppen" und den "Ordnungskräften" dargestellt.

Offensichtlich ist also: In den Texten werden jeweils immer die Verbrechen der anderen Seite hervorgehoben und übertrieben, die Verbrechen, die durch den eigenen Staat gemacht wurden, werden unter den Tisch fallengelassen. In den serbischen und montenegrinischen Geschichtsbüchern wird kein einziger Albaner, der durch die serbisch-jugoslawischen Kräfte getötet wurde, erwähnt, während in den Büchern im Kosovo und Albanien die serbischen Opfer nicht vorkommen. In den kosovarischen und albanischen Lehrbüchern werden jene Menschen, die durch die Nato-Intervention getötet wurden, nicht erwähnt, in den serbischen Lehrbüchern wird die Anzahl verdoppelt und überhaupt nicht beschrieben, dass die allermeisten Menschen im Kosovo und nicht in Serbien getötet wurden – also Albaner waren.

Fake-Facts

In den kosovarischen Büchern wird behauptet, dass die serbische Armee während der Nato-Bombardements (24. März bis 10. Juni 1999) 15.000 Albaner getötet habe. Das ist weit übertrieben. Tatsächlich wurden zwischen Jänner 1998 und Dezember 2000 7.864 albanische Zivilisten getötet. In den kosovarischen Büchern wird hingegen gar nicht beschrieben, dass 210.000 Nichtalbaner unter Druck den Kosovo verließen, als die internationalen Truppen kamen. Die serbischen und montenegrinischen Lehrbücher beschreiben wiederum nicht, dass mehr als 860.000 Albaner wegen des Krieges aus dem Kosovo flohen.

Die Gerichtsverfahren vor dem Jugoslawien-Tribunal gegen Anführer der UÇK kommen in den kosovarischen Büchern nicht vor. Die serbischen Geschichtsbücher erwähnen wiederum nicht, dass Serben schon vor der Intervention der Nato Opfer von UÇK-Verbrechen waren – dadurch entsteht der Eindruck, dass es die Nato gewesen sei, die Verbrechen begangen habe, führt Gashi aus.

Gerichtsverfahren vor dem Jugoslawien-Tribunal gegen UÇK-Chefs wie hier gegen Ramush Haradinaj existieren im Kosovo offiziell nicht.
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Feindliche Beziehungen werden gefördert

Zu den Fakten: Laut Human Rights Watch wurden während des Nato-Bombardements maximal 528 Zivilisten getötet, davon zwischen 279 und 318 – also die Mehrheit – im Kosovo. Laut dem Zentrum für humanitäres Recht wurden insgesamt 759 Personen durch das Bombardement getötet, davon waren 447 Zivilisten, die anderen Militärs, Beamte oder Paramilitärs. In serbischen Geschichtsbüchern ist fälschlicherweise von 1.200 bis 2.500 getöteten Zivilisten die Rede. Während des gesamten Kosovo-Konflikts zwischen 1998 und 1999 kamen 13.000 Menschen ums Leben, davon waren die Mehrheit Albaner.

Gashi hält fest, dass die Inhalte der montenegrinischen Lehrbücher noch am ehesten den Fakten entsprechen. Offensichtlich sei aber, dass ansonsten Fakten einfach ignoriert würden, wenn sie politisch nicht ins Konzept passten. Es sei erschreckend, dass diese Geschichtsbücher von den Bildungsministerien zertifiziert seien, sagte er zu "Balkaninsight". "Indem man erlaubt, dass diese Geschichtsbücher verbreitet und als primäre Ressource für Informationen verwendet werden, empfehlen wir feindliche Beziehungen mit den Nachbarn für die neuen Generationen", bringt er die Sache auf den Punkt.

Politische Eliten machen Propaganda

Solange auf der politischen Ebene von allen Seiten der völkische Nationalismus zur Staatsräson erhoben wird und er die Debatte über die nachbarschaftlichen Beziehungen dominiert, werden auch andere gesellschaftliche Institutionen in diese Dynamik hineingezogen und können sich schwer frei und differenziert äußern. Das Beispiel Südosteuropa zeigt, wie wichtig es wäre, dass die politischen Eliten nach dreißig, fast schon vierzig Jahren einen anderen Diskurs beginnen, der es ermöglicht, dass Kinder nicht in geistigen Bunkern aufwachsen müssen und so etwas wie Aufklärung stattfinden kann.

Südosteuropa ist so etwas wie ein "Schlachtfeld für Erinnerungskriege", heißt es in dem Buch "Geschichtsbücher in Post-Konflikt-Gesellschaften" des Zentrums für humanitäres Recht in Belgrad aus dem Jahr 2015 – und dies, obwohl das Internationale Strafgericht für das Frühere Jugoslawien alle Fakten zusammengetragen und wichtige Urteile gefällt hat. Vielmehr betreibe man in den Geschichtsbüchern einen "distanzierten Umgang mit den Fakten", so die Analyse in dem Buch.

Projekt gemeinsame Geschichte

Dabei sind Geschichtsbücher zentral, wenn es darum geht, kollektive Erinnerung und damit den sozialen Zusammenhalt zu gestalten. Der Mangel an politischem Willen, sich mit der eigenen Verantwortung zu konfrontieren und auf die andere Seite mit einer ehrlich gemeinten Aufarbeitung zuzugehen, ist in Kroatien, in Serbien, in Bosnien-Herzegowina und im Kosovo im täglichen politischen Diskurs zu sehen. Die Werte einer demokratischen Gesellschaft – aktive Bürgerbeteiligung, soziale Inklusion und kritisches Denken – werden nicht umfassend unterstützt.

Es gibt einige Versuche, diesem Denken etwas entgegenzusetzen, etwa das Projekt "Gemeinsame Geschichte", das auch multiperspektivische Geschichtsbücher herausgegeben hat. Lehrer und Medienvertreter können in diesem Projekt Trainings bekommen. Etwa eine halbe Million Schüler und Studenten wurden mittlerweile davon erreicht.

Staat, Nation, Territorium neu diskutieren

Was in den Nachfolgestaaten des ehemaligen Jugoslawien aber weiterhin fehlt, sind: Selbstreflexion, kritisches Hinterfragen nationalistischer Positionen, bürgerliche Werte, eine kritische Masse, die die herrschenden Clans und Parteien und ihre dominanten Narrative mit Fakten konfrontiert, eine Abkehr von rassistischem Denken und gruppenbasierter Menschenfeindlichkeit, kurzum, der politische Wille, liberale, offene Gesellschaften zu bilden. Das extrem hohe Ausmaß an kollektivistischem Denken führt zu einer Art Bunkermentalität, in der die anderen immer als Fremde gesehen werden und man selbst als Opfer. (Adelheid Wölfl, 2.4.2019)