Haussa-Vertriebene aus der Fulani-Region in Nigeria: Vor allem im Norden des Landes ist das Sprechen über Vergewaltigung und Missbrauch neu.

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Saadatu Hamma hat eine Zeitlang Tagebuch geführt. Darin hat die Richterin jeden Vergewaltigungsfall aufgezeichnet, den sie bearbeitet hat oder von dem ihr Kollegen erzählt haben. Wie viele Fälle sie im Laufe der Jahre zusammengetragen hat, kann sie nicht mehr genau sagen. Die Zahl sei hoch gewesen – und gleichzeitig verschwindend gering. "98 Prozent der Vergewaltigungsfälle werden nicht angezeigt", sagt die Frau, die in Kaduna – die Hauptstadt des gleichnamigen Bundesstaats im Norden Nigerias – lebt. Aktuell würden besonders häufig Kinder und Jugendliche unter 15 Jahren zu Opfern, sagt Hamma.

Ändern könnte das der Hashstag #ArewaMeToo, der vor allem in Kaduna für Diskussionen sorgt. Arewa ist die alte Bezeichnung für den Norden Nigerias. Seit Februar berichten Frauen im Kurznachrichtendienst Twitter von sexuellen Übergriffen. Gegner der Debatte werfen ihnen vor, sie müssten sich nur ordentlich anziehen oder nach den Regeln des Korans leben. Als Urheberin des Protests gilt Maryam Aiwasu, die laut der Menschenrechtsorganisation Amnesty International sogar kurzzeitig verhaftet wurde. Mittlerweile soll sie aber wieder entlassen worden sein.

Neue Entwicklung

Dass über Missbrauch und Vergewaltigungen eine öffentliche Debatte geführt wird, ist eine neue Entwicklung. In ganz Nigeria sind diese Themen tabuisiert, im Norden jedoch besonders, so Hadiza Isma el-Rufai.

Die Ehefrau von Gouverneur Nasir el-Rufai ist Schriftstellerin und hat mit ihrem Roman An Abundance of Scorpions, der bisher nur auf Englisch erschienen ist, die Situation von muslimischen Frauen in der Haussa-Kultur – die Haussa sind die größte ethnische Gruppe im Norden – in den Mittelpunkt gestellt. "Unsere Gesellschaft ist ziemlich scheinheilig. Wir denken gern: Wir tun solche Dinge nicht. Das sind nur die Weißen. Doch es passiert genau so hier. Der einzige Unterschied ist, dass wir nicht darüber sprechen."

Es sind besonders die Familien der Opfer, die alles tun, damit die Vorfälle nicht publik werden. "Wenn hier ein Mädchen vergewaltigt wird, denkt man zuerst an den Ruf der Familie. Man sagt der Betroffenen: 'Erzähl nichts, sonst heiratet dich niemand'", sagt Hadiza Isma el-Rufai. Die Menschenrechtlerin Amina Kazaure bestätigt das. Sie arbeitet für die nichtstaatliche Organisation Vision Trust Foundation und ist Koordinatorin des interreligiösen Frauenrats. Im Bundesstaat Kaduna wirbt auch sie trotz "enormer Stigmatisierung" dafür, dass Vergewaltigungen nicht mehr verschwiegen werden.

Einschüchterungen

Einfach ist das nicht. Amina Kazaure erinnert sich an einen Fall, bei dem die Mutter des Opfers mit Frauenrechtlerinnen über den Missbrauch sprechen wollte. "Doch dann hat sie ihr Mann eingeschüchtert und sie musste schweigen. Dabei ist sie gebildet und arbeitet an der Fachhochschule."

In einem anderen Fall sei der Täter ein Islamgelehrter gewesen, der ein Mädchen in einer öffentlichen Toilette missbrauchte. "Später wurde die Schwester darauf aufmerksam, weil das Mädchen Blut im Urin hatte. So erfuhr die Mutter davon." Die Frauenrechtlerin spricht deshalb häufig mit Kindern und ermutigt sie zu sprechen, wenn sie Ungewöhnliches beobachten oder selbst erleben.

Hohes Risiko für Kinder der Armen

Zwar kommt Missbrauch in allen Schichten vor. Ein besonders hohes Risiko scheint es jedoch für die Kinder der Armen zu geben. Wenn – in selteneren Fällen – Buben zum Opfer werden, seien es häufig solche, die die Almajari-Schulen besuchen, sagt Amina Kazaure. In den Almajari-Schulen versammeln Imame Buben um sich, die nachts den Koran auswendig lernen müssen und tagsüber zum Betteln auf die Straßen geschickt werden. "Sie werden missbraucht und danach eingeschüchtert. Sie haben kein Netzwerk und niemanden, der sich um sie kümmert."

Richterin Saadatu Hamma kennt außerdem Fälle, in denen die Täterfamilie jene des Opfers bestochen hat. Auch hat sie erlebt, dass viele Opfer im Fall eines Prozesses nicht einmal die Mittel haben, um den Transport zum Gericht zu zahlen. #ArewaMeToo ist für sie deshalb eine willkommene Entwicklung: "Endlich können wir darüber sprechen. Wir können bessere Aufklärungsarbeit betreiben und eine bessere Rechtsprechung einfordern. Die Opfer können es besser verarbeiten. Es kann besser werden in Nordnigeria." (Katrin Gänsler aus Kaduna, 1.4.2019)