Politische Schwäche weckt manchmal Mitleid, im schlimmsten Fall Verachtung und Spott. Was sich im Vereinigten Königreich seit dem Referendum im Juni 2016 abspielt, macht diese große Demokratie zu einer Lachnummer. Damals stimmte eine knappe Mehrheit von 51,9 Prozent, 17,4 Millionen Briten, dafür, die EU zu verlassen, 16,1 Millionen dagegen. Der Widerstand gegen das von Tag zu Tag größere Brexit-Chaos im Unterhaus wird immer stärker. Eine Onlinepetition gegen den Austritt haben bereits über sechs Millionen Menschen unterzeichnet.

Es gibt bisher keine überzeugende Antwort auf die Kernfrage: Wenn nicht Mitgliedschaft, was dann? Zollunion, Binnenmarkt oder das norwegische Modell der engen Verbundenheit? Durch das Versagen der schwachen und schwankenden Premierministerin Theresa May und ihrer gespaltenen konservativen Partei wurde auch die Hoffnung auf einen geregelten Austritt aus der EU verspielt. Niemand zwang sie zur vorgezogenen Parlamentswahl, die sie die komfortable Mehrheit kostete, und zu der Serie von Fehlkalkulationen, die das Land immer tiefer ins Verderben führen.

Ohne Mays Mischung aus Selbstüberschätzung und Dilettantismus zu übersehen, muss man allerdings betonen, dass die Hauptverantwortung für den ganzen Brexit-Prozess ihr Vorgänger David Cameron trägt. Er hatte seinerzeit das unglückselige Referendum angesetzt, bloß um sich im innerparteilichen Streit um den Europakurs durchzusetzen. Der dramatische Zerfallsprozess der Tory-Partei hat immer wieder Churchills Aussage bestätigt, in der Politik, vor allem ganz oben, gebe es keine Freundschaft. Die Hinterlist eines Boris Johnson oder seines "Parteifreunds", Kabinettsminister Michael Gove dürfte allerdings auch in der intrigenreichen Geschichte der britischen Konservativen eine einsame Spitze darstellen.

Furcht vor dem Machtverlust

Und die Labour-Partei? Unter der Führung des europafeindlichen dogmatischen Linkssektierers Jeremy Corbyn und seiner trotzkistischen Hintermänner trägt diese gespaltene Fraktion zum großen Durcheinander bei. Unabhängige Beobachter sagten mir in London, mit Hinweis auf seine Vergangenheit und europafeindliche Haltung, Corbyn würde nach einer wahrscheinlich gewonnenen vorgezogenen Parlamentswahl als Premierminister ein noch größeres außen- und sicherheitspolitisches Risiko darstellen als die May-Regierung.

Nur die Furcht vor dem Machtverlust nach einer Neuwahl verhindert den totalen Zerfall der Regierungspartei. Trotz des großen Chaos in Westminster liegt es im eminenten und gemeinsamen Interesse aller 27 EU-Mitgliedsstaaten, dieses wirtschaftlich so wichtige Land nicht zu isolieren, sondern ihm eine Brücke zu bauen. Es wäre töricht, die politische und strategische Bedeutung Großbritanniens zu verniedlichen. Das Brexit-Drama sollte eine Warnung auch für jene sein, die aus kurzsichtigen partei- und machtpolitischen Überlegungen mit den Propagandisten der europafeindlichen national-populistischen Rhetorik kokettieren. Die von rückwärtsgewandten englischen Nationalisten angezündete Brexit-Bombe sollte als erschreckendes Beispiel für die Folgen der ideologischen Verblendung dienen. (Paul Lendvai, 1.4.2019)