Einen nicht unwesentlichen Teil der schlanken 80 Opernminuten verschläft der "Mörderheld". Schlummernd scheint Orest Ruhe zu finden; kein Albtraum vermag sein Gewissen so zu martern wie die Wirklichkeit der begangenen Tat. Orest hat Klytämnestra ermordet: In einem verschlungenen Bunker mit Türen, aus denen der Muttergeist hereinschwebt, leidet Orest im Wachen an Erinnerung. Schuldgefühle befeuern seinen Wahn, der die Stimme der Toten erweckt. Deren Schrei eröffnet das Operndrama, um bald an einen Frauenchor weiterzugeben. Er haucht "Orest, Orest". Es ist eine Art Foltermantra, mit dem die Stimmen den Zerrütteten plagen.

Imposante Darstellung eines in tiefer Schuld gefangenen Mörders: Thomas Johannes Mayer als Orest (rechts im Bild) an der Wiener Staatsoper.
Foto: Staatsoper/Pöhn

Später wird dieser Bruder Elektras in Manfred Trojahns Oper den eigenen Namen selbst zwanghaft wiederholen, ihn herauspressen, als drohte er an sich selbst zu ersticken. Es ist jene Szene, die am eindringlichsten belegt, wie virtuos der deutsche Komponist das Innere einer Figur zum packenden musiktheatralischen Psychogramm zu formen versteht. Natürlich: Ohne die exzellente, bis an die Grenzen der Selbstentäußerung vordringende vokale Darstellungskunst von Thomas James Mayer (als Orest) wäre diese Qualität wohl nicht dermaßen stark zum Vorschein gekommen. In profunder Weise verschmelzen hier Wort, Ton und Verzweiflung.

Die Kriegschoreografie

Manfred Trojahn versteht es allerdings, nicht nur punktuell markante Rufzeichen zu setzen. Seine instrumentalen Ideen gleichen einer Musiklava, die sich ohne Unterlass fortwälzt. Aus ihm dampfen unentwegt instrumentale Bebungen heraus, blubbern individuelle Statements diskret hervor. Da ist jene – in mitunter clusterhafte Klangflächen – hineinschneidende Streicherschärfe. Da sind die sich aufwärtswinselnde Streicherstrukturen: Die sechs Szenen entfalten so Dauerhitze, ihre Sogwirkung bleibt ungebrochen, auch wenn reichlich lyrische Intimität herumschwebt. Trojahn ist nie auf den plakativen Effekt aus. Im Intermezzo, wenn die trojanische Belagerung als Kriegschoreografie ihre Darstellung findet, explodiert die Musik zwar schrill-dramatisch.

Foto: Staatsoper/Pöhn

Wenn Wiederholungstäter Orest Helena ermordet, ist aber nur noch ein tiefer Kontrabasston zu hören, gewissermaßen ein Orgelpunkt des Todes. Die Statik eines quasi nicht mehr vorhandenen Pulses vermittelt die Aura des starren Entsetzens umso deutlicher. In Summe: eine undogmatische, heutige Musik, die nicht versucht, sich der Historie zu entledigen, aber dennoch einen eigenen Tonfall findet. Bei der innerlich verlorenen und langsam in Hass versteinernden Elektra landet dieser Stil im Hochdramatischen. Mit imposantem Furor und durchdringender vokaler Vitalität verleiht Evelyn Herlitzius dieser Figur brutale Wildheit. Diese sich nur noch von Hass und Mordfantasien ernährende Frau ist für Orest das destruktive Opium. Diese verzweifelte Geschwisterliebe, die auch inzestuöse Facetten aufweist, tobt sich in Marco Arturo Marellis kahlem Raum bis zur Erschöpfung aus.

Hass, die ewige Droge

Das Ambiente, dem auch surreale Kraft innewohnt, wird für die Musik aber auch zur verwandten Fläche, mit deren Atmosphäre sie verschmelzen kann. Einmal herrscht Gedränge in dieser Architektur der Aussichtslosigkeit: Es lässt Marelli die schöne Helena (differenzierte Rolleninterpretation Laura Aikin) über Leichenberge einherschreiten. Sie lebt in einer narzisstischen Blase, sie ist ein greller Kontrast zur Grunddüsternis der Inszenierung – wie auch die Götter. Regelrecht buffonesk wirkt dieser Apollo, der verspielt seine Pfeile verschießt, während Dionysos, ganz in Gold gewandet, kitschig strahlt. In der göttlichen Doppelrolle schwebt Daniel Johannson durch die Decke herab in einer Schaukel, um schließlich Helena eine Himmelsfahrt zu bescheren. Das hat dann Züge einer komischen Götterdämmerung.

Durchbrochener Kreislauf

Die Axt als Problemlösung hat nämlich vorerst ausgedient. Orest will ohne Schuld leben, ohne göttlichen Mordauftrag. Er geht folgsam jener nach, die er hätte meucheln sollen – Helenas Tochter Hermione (glanzvoll Audrey Luna). Ob das gutgeht, bleibt bei Trojahn offen. Das Staatsopernorchester unter Michael Boder ist jedenfalls sicher ein Qualitätszentrum dieser Aufführung. Es verleiht den fragilen wie den heftigen Strukturen das gewisse Etwas zwischen feingliedrigen Linien und Expressivität.

Eigentlich hätte Krzysztof Pendereckis Phädra uraufgeführt werden sollen. Trojahn sprang ein. Sein Werk ist jedoch alles andere als eine Notlösung und verdient eine Dauerbleibe im Repertoirehaus Staatsoper. (Ljubiša Tošić, 2.4.2019)