"Kommunikation ist mehr als Journalismus. Wir müssen uns etwa mit anderen Stimmen und Menschen verbünden, die mit ihren Millionen von Followern eine gewisse Verantwortung in den sozialen Medien tragen. Wir müssen sie dazu animieren, mit uns gegen Falschinformationen und Hass im Netz zu kämpfen": Guilherme Amado, Aufdecker beim brasilianischen Magazin "Epoca".

Foto: Epoca

Guilherme Amado ist brasilianischer Investigativreporter aus Rio de Janeiro, der sich in den letzten zehn Jahren vor allem mit Korruption, Drogenhandel, den Milizgruppen in Rio und anderem organisiertem Verbrechen beschäftigt hat. Beim Journalismufestival in Perugia (3. bis 7. April 2019) spricht er am Donnerstag über die internationale Zusammenarbeit von Journalisten. Im Interview berichtet er über Präsident Jair Bolsonaro und seinen Umgang mit Medien, über das Bild Lateinamerikas in der westlichen Medienwelt und über die Schwierigkeiten des Journalismus.

Amado hat für die Tageszeitung "O Globo" geschrieben und arbeitete dort etwa mit Lauro Jardim, der die renommierteste Kolumne über Wirtschaft und Politik in Brasilien schreibt. Jetzt arbeitet er für "Epoca", eine Wochenzeitung, die auch zu Globo gehört. Er ist Vize-Präsident von ABRAJI, der brasilianischen Vereinigung für Investigativen Journalismus.

Frage: Hat sich seit Jair Bolsonaros Amtsantritt etwas an der Arbeit von Journalisten und Journalistinnen geändert? Gibt es Einschränkungen bei der Meinungsfreiheit?

Amado: Die Presse wurde von vielen Präsidenten nicht auf die respektvollste Art und Weise behandelt, auch in der Amtszeit der Arbeiterpartei. Manche Kollegen der Innenpolitik sagen, es sei jetzt noch schwieriger als früher. Was sich aber definitiv geändert hat, ist die Tatsache, dass wir erstmals einen Präsidenten haben, der die Presse in den sozialen Medien attackiert und diffamiert. Das ist nicht nur schlecht für Journalisten, sondern auch für unsere Demokratie. Die Attacken richten sich von dem Präsidenten und seinen Unterstützern gegen Redaktionen, Medien und uns Journalisten – auf professioneller, aber auch auf persönlicher Ebene. Es gab in der Vergangenheit zwar auch Attacken von Unterstützern der Arbeiterpartei auf die Medien – aber die Aggressivität und Quantität der Attacken ist eindeutig etwas Neues.

Frage: Auf Bolsonaro’s Twitteraccount ist immer wieder die Rede von "bösartigen Journalisten", in einem Tweet unterstellt er "O Globo", einer der populärsten Tageszeitungen Brasiliens, gar, die Regierung durch Erpressung, Falschinformationen und Leaks stürzen zu wollen. Dieses Phänomen kann in den USA, und in bestimmten Ausmaßen auch hierzulande beobachtet werden. Wie verteidigt ihr euch als Journalisten und Journalistinnen?

Amado: Die brasilianische Organisation für Investigativen Journalismus ABRAJI hat ein Toolkit für Journalisten entwickelt, um ihnen beizubringen, wie sie mit virtuellen Attacken umgehen sollen – sowohl auf emotionale als auch legale Weise – und wie Informationen geschützt werden können. ABRAJI arbeitet außerdem mit Autoritäten zusammen um zu garantieren, dass diese Verbrechen nicht unbestraft bleiben. Journalisten werden in Gefahr gebracht, das muss man verhindern.

Frage: Europäische Medien haben viel über den brasilianischen Wahlkampf 2018 berichtet, vor allem wegen Bolsonaro und seinem Trump’schen Charakter. Über die Konsequenzen seiner Politik wird wenig berichtet. Generell scheint es, dass über Lateinamerika erst dann berichtet wird, wenn Supermächte wie die USA oder Russland involviert sind, wie wir es in Venezuela beobachten können. Woran denken Sie, liegt das?

Amado: Lateinamerika bekommt weder von den europäischen noch von den US-amerikanischen Medien viel Aufmerksamkeit. In den US-Medien ist es üblich, Lateinamerika als eine einzige Gruppe zu betrachten, sie sehen uns nicht als unterschiedliche Länder. Man sieht uns als eine Sache – aber das sind wir nicht. Brasilien unterscheidet sich stark von Argentinien, das sich stark von Mexiko unterscheidet, das sich wiederum stark von Chile, Bolivien, Panama und Uruguay unterscheidet. Das ist ein Problem, generiert durch fehlende Aufmerksamkeit und – manchmal auch – durch fehlenden Respekt der "entwickelten" Länder gegenüber den "sich entwickelnden" Ländern. Sie haben nicht dasselbe Interesse in unsere individuellen Länder, welches wir in ihre haben. Das ist natürlich ein Fehler, man kann nicht behaupten, dass Brasilien und Paraguay oder Brasilien und Kuba gleich sind, wenn sie es nicht sind. Es gibt Unterschiede und diese sind manchmal extrem groß. Diese Generalisierung passiert sowohl in den USA als auch in Europa.

Frage: Kann das geändert werden?

Amado: Ich glaube schon. Ich habe aber das Gefühl, dass es einer kulturellen Veränderung bedarf, die ihr in euren eigenen Medienhäusern machen müsst – also die Journalisten in Europa und den USA. Denkt darüber nach: Europa kann auch nicht als eine einzige Gruppe betrachtet werden. Es gibt Unterschiede zwischen Frankreich, Deutschland, Großbritannien, Österreich und Spanien – genauso wie es sie zwischen lateinamerikanischen Ländern gibt. Das gleiche gilt für Afrika. Es gibt über 50 afrikanische Länder, man kann den Kontinent nicht einfach als "einziges Ding" betrachten – wenn das nicht der Fall ist. Hier muss eine Veränderung her und die einzige Art und Weise, das zu ändern, ist damit aufzuhören. Hört einfach auf mit dieser Generalisierung.

Frage: Während des Karnevals twitterte der brasilianische Staatspräsident Jair Bolsonaro ein obszönes Video mit pornografischem Inhalt. Darauf war ein Mann zu sehen, der auf einen anderen urinierte. Am nächsten Morgen tweetete der Präsident erneut, um sich zu erkundigen, was "Golden Shower" – der Name dieser sexuellen Praktik, der in Reaktions-Tweets immer wieder auftauchte – bedeuten würde . Das Posting stieß aufgrund der Unangebrachtheit auf heftige Kritik am Präsidenten. Zur gleichen Zeit demonstrierten tausende Menschen im Zuge der Karneval-Feierlichkeiten gegen Bolsonaros Regierung in den Straßen Rios, darunter auch die Mangueira Samba Gruppe. War dies ein taktischer Schritt des Präsidenten, um von den Protesten abzulenken?

Amado: Ob der Golden-Shower-Tweet ein taktischer Schritt war, kann ich nicht sagen. Es gab zahlreiche Protestaktionen gegen Bolsonaro und die konservative Regierung – nicht nur in Rio de Janeiro. Der Karneval zieht sich durch das ganze Land, in Pernambuco zum Beispiel, dem Nord-Osten, machen wir zu Karneval riesige Puppen, die Bonecos. Dieses Jahr hatten wir erstmals eine Puppe in Gestalt von Bolsonaro. Als die Macher der Puppe mit ihr auf die Straßen gingen, wurden sie von anderen Protestern mit Bierdosen beworfen. Auch in Bahia wurde Bolsonaro während den Umzügen beschimpft, obwohl er nicht einmal anwesend war.

Auf jeden Fall war der Tweet Bolsonaros ein Versuch, den Karneval, die berühmtesten Feierlichkeiten des Landes, zu attackieren. Umfragen zeigen aber, dass ihm das nicht gelungen ist: Viele fanden seinen Tweet unpassend und letzte Woche löschte er ihn. Die Männer, die auf dem Video zu sehen waren, hatten Beschwerde beim Obersten Gerichtshof eingereicht – hätte er ihn nicht selbst gelöscht, wäre er wahrscheinlich dazu gezwungen worden.

Frage: Sie waren das einzige brasilianische Mitglied eines multinationalen Teams von Journalisten, die die Berichterstattung des größten Korruptionsfalls in der brasilianischen Geschichte geführt haben. Was sind die Schwierigkeiten beim Berichten über scheinbar unendliche Korruptionsfälle wie Lava Jato*?

Amado: Wir arbeiten noch immer daran, Lava Jato geht noch immer weiter, nicht nur in Brasilien, sondern auch in den Nachbarländern. Ich glaube das Schwierigste an der ganzen Berichterstattung ist, über die offiziellen Ermittlungen der Justiz und der Polizei hinaus zu gehen. Investigativer Journalismus muss überschreiten, was auf Dokumenten steht und was von den Behörden notiert wird. Wir müssen unsere eigenen Ermittlungen durchführen. Das ist natürlich schwer, wenn die Ermittler ihren Job gut machen. Das Beste, was man tun kann, ist wohl die Rolle des "Watchdogs" einzunehmen. In Brasilien ist es wichtig zu hinterfragen und den Ermittlern zu zeigen, was sie gut machen und wo sie sich verbessern können. Diese überprüfende Funktion ist eine essentielle Rolle des Journalismus. Mit uns hat die Justiz und die Polizei einen externen Beobachter. Wir sehen was sie machen – und was nicht.

Frage: Sie haben 2014 auch das "Narcosur Network" gegründet, ein auf What’s-App basierendes Netzwerk, das Reporter und Reporterinnen in Lateinamerika verbinden soll, die über organisiertes Verbrechen schreiben. Kannst du dir auch eine globalere Kooperation zwischen Journalisten vorstellen? Beispielsweise zwischen lateinamerikanischen und europäischen Journalisten?

Amado: Ich habe mich in Stanford ein Jahr damit befasst, bessere Wege der transnationalen Zusammenarbeit für Journalisten zu finden. Was ich dabei gelernt habe, ist mit Journalisten verschiedenster Kulturen zu arbeiten und Kollaborationen entstehen zu lassen. In Perugia nehme ich an einem Workshop zu Collaborative Journalism teil, rede cross-border Journalismus und stelle die wichtigsten Projekte der letzten Jahre vor. Es geht auch darum, sich in andere Journalisten hineinzuversetzen und so Zusammenarbeit möglich zu machen.

Lateinamerika und Europa haben viele Themen gemeinsam: Menschenrechte, Migration, Wirtschaft, Organisiertes Verbrechen – Geschichten, die sachgemäß und ordentlich erzählt werden müssen. Dafür sind Kollaborationen unumgänglich, man braucht Informationen, die über die eigenen Grenzen hinausgehen.

Frage: Der Journalismus befindet sich weltweit in schwierigen Situationen: Fake News, Deep Fakes, Politiker und Politikerinnen, die versuchen, die Pressefreiheit einzuschränken, Social Media und die beschleunigte Zeit, in der wir leben – die Liste ist endlos. Ist es die Pflicht der Journalisten und Journalistinnen, gegen diese Trends anzukämpfen?

Amado: Natürlich müssen Journalisten diese Pflicht wahrnehmen, wir sollten das tun. Auf der anderen Seite müssen wir auch verstehen, dass wir aus unserer Journalisten-Blase heraustreten müssen. Kommunikation ist mehr als Journalismus. Wir müssen uns etwa mit anderen Stimmen und Menschen verbünden, die mit ihren Millionen von Followern eine gewisse Verantwortung in den sozialen Medien tragen. Wir müssen sie dazu animieren, mit uns gegen Falschinformationen und Hass im Netz zu kämpfen.

Das bereitet mir Sorge: Wie wir aus der Journalismus-Blase herauskommen. (Melissa Erhardt, 4.4.2019)