Etwa 90 Prozent der Wahrnehmung erfolgen über die Augen. "Das Sehvermögen ist deshalb der wichtigste Sinn des Menschen", sagt Augenärztin Ursula Schmidt-Erfurth, Vorständin der Universitätsklinik für Augenheilkunde in Wien.

Umso einschneidender sind die Folgen der altersbedingten Makula-Degeneration (AMD). Im fortgeschrittenen Stadium dieser Augenerkrankung, im medizinischen Fachjargon geografische Atrophie genannt, geht die Stelle schärfsten Sehens (Makula) in der Netzhaut zugrunde. Infolgedessen wird das zentrale Sehen zunehmend beeinträchtigt – mit entsprechenden Folgen unter anderem für Lesen und Autofahren.

Die Sturzanfälligkeit nimmt zu, die Lebenserwartung ab. Die Zahl der AMD-Patienten wird in den nächsten Jahren auch weltweit steigen, denn die Menschen werden immer älter. In Österreich sind derzeit etwa 30.000 Personen wegen einer AMD in augenärztlicher Behandlung. "Es haben aber eigentlich sehr viel mehr eine AMD. Die Dunkelziffer ist bereits jetzt sehr groß", sagt Schmidt-Erfurth, die zusätzlich zu ihrer augenärztlichen Arbeit aktiv forscht und das Christian-Doppler-Labor für Ophthalmologische Bildanalyse und das Vienna Reading Center leitet.

Gestörte Müllentsorgung

"Viele bemerken gar nicht, dass ein Auge betroffen ist, weil das zweite noch gesunde Auge lange Zeit in der Lage ist, den Sehverlust auszugleichen." Die Wahrscheinlichkeit, dass nach fünf Jahren auch das zweite Auge erkrankt, ist mit 45 Prozent relativ hoch. Schmidt-Erfurth rät deshalb allen Menschen über 50 Jahren, regelmäßig zum Augenarzt zu gehen.

Wenn Licht ins Auge fällt, werden Stoffe in den Sehsinneszellen, den sogenannten Photorezeptoren, abgestoßen und zu Müll, der entsorgt werden muss. Das retinale Pigmentepithel unter der äußeren Netzhaut (Retina) ist hierfür zuständig. Es ist Müllentsorger und Nährstoffquelle zugleich.

Treten im retinalen Pigmentepithel Stoffwechselprobleme auf oder verändert sich das Epithel altersbedingt ungünstig, ist die Müllentsorgung gestört. Die bei jedem Menschen mit zunehmendem Alter größer werdenden gelblichen Müllberge heißen Drusen. Sie erschweren Nährstoffen den Weg zu den Sinneszellen, sodass diese zunehmend schlechter versorgt werden und nach und nach absterben.

Mit 120 haben alle eine AMD

Nach Aussage von Schmidt-Erfurth hätten alle Menschen eine trockene AMD, wenn sie ein Alter von 120 Jahren erreichen würden. Viele Menschen sterben einfach, bevor ihre Drusen zum Problem werden. "Es ist eine Frage der Genetik, ob das Sehvermögen früher oder später abnimmt", sagt die Wiener AMD-Expertin.

Bei genetisch vorbelasteten Menschen ist das angeborene Immunsystem, Komplementsystem genannt, etwas überaktiv. Die Drusen verstärken diesen Zustand. Das hat zur Folge, dass angelockte Immunzellen die alternde Makula angreifen und so die trockene AMD verschlimmern.

Das Auge als Wunderwerk: Restauratorin Julia Wechselberger vom Josephinum hält die anatomischen Zeichnungen mit Vermessungen von einst. Heute wird mit künstlicher Intelligenz geforscht.
Foto: Katsey

Problematisch ist, dass die trockene AMD bei etwa 15 Prozent der Patienten in eine feuchte AMD übergehen kann. Quasi als Hilferuf auf die Mangelversorgung mit Nährstoffen bildet die Netzhaut dann größere Mengen des Wachstumsfaktors VEGF (Vascular Endothelial Growth Factor).

Ein fataler Irrtum, denn er lässt undichte Blutgefäße aus der Aderhaut in die normalerweise gefäßfreie Makula hineinsprießen. Aus diesen Neubildungen treten Flüssigkeit und Blut aus und die Netzhaut schwillt an. Hiervon leitet sich die Bezeichnung feuchte AMD ab. Es bilden sich Vernarbungen, Sinneszellen im Bereich der Makula gehen kaputt. Die Betroffenen nehmen im Zentrum des Gesichtsfeldes Verzerrungen wahr. Gerade Linien erscheinen krumm.

"Wichtig ist, dass die Therapie früh beginnt, denn schon vorliegende Zellschäden sind nicht reversibel. Um den Wechsel von trocken zu feucht im frühen Stadium zu bemerken, sollte bereits die trockene AMD engmaschig kontrolliert werden", warnt die Augenärztin.

Gleichzeitig Läuse und Flöhe haben

Die feuchte AMD ist im Gegensatz zur trockenen AMD auch relativ gut behandelbar. VEGF-Hemmer wie etwa der Antikörper Aflibercept (Eylea) und das teurere Ranibizumab (Lucentis) neutralisieren den Wachstumsfaktor VEGF und stoppen so das Einsprossen von Blutgefäßen in die Makula. Die VEGF-Hemmer müssen etwa alle zwei Monate oder so, das hängt vom einzelnen Patienten ab, ins erkrankte Auge injiziert werden.

Die eher unangenehme Behandlung erfolgt am besten in einem spezialisierten Makulazentrum. Dann bezahlen auch die Krankenkassen für die kostspielige Therapie. Der Patient benötigt aber eine Überweisung seines Augenarztes.

"Mit den VEGF-Hemmern gelingt es, die feuchte AMD durch die Injektionen auszutrocknen, und das noch bestehende Sehvermögen kann zunächst erhalten werden", so Schmidt-Erfurth. Trotzdem gibt es Patienten, die darüber klagen, dass sie immer schlechter sehen. "Bei diesen Patienten liegt zugleich altersbedingt eine fortschreitende trockene AMD vor. Man kann leider gleichzeitig Läuse und Flöhe haben."

Bessere Therapie

Bei der trockenen AMD gibt es bislang keine medikamentöse Therapie, wie dies bei der feuchten Variante der Fall ist. Hoffnungsvoll stimmen Forschungsanstrengungen zum Komplementsystem. In einer Studie wird untersucht, ob die Hemmung eines Bestandteils des Komplementsystems mit einem Antikörper das Absterben weiterer Sinneszellen verhindern kann.

Außerdem hat die sogenannte AREDS-Studie (Age-Related Eye Disease Study) ergeben, dass antioxidativ wirksame Vitamin-Supplemente das Risiko eines Fortschreitens von einem mittleren Stadium zu einer späten trockenen AMD verringert.

Carotinoide wie Lutein, Mineralien (Zink, Selen) sowie mehrfach ungesättigte Omega-3-Fettsäuren werden bei beiden AMD-Formen ebenfalls als hilfreich angesehen. "Auch deshalb rückt zunehmend die Früherkennung der trockenen und feuchten AMD in den Fokus", sagt Schmidt-Erfurth. Hierfür nutzt inzwischen die Augenheilkunde die Möglichkeiten, die die künstliche Intelligenz (KI) und Methoden des maschinellen Lernens bieten.

Abermilliarden Pixel

Seit 2013 entwickelt Schmidt-Erfurth mit ihren Mitarbeitern KI-Methoden, die es ermöglichen, in Minutenschnelle Strukturen aus einer dreidimensionalen Schnittaufnahme höchster Auflösung zu extrahieren. Die Schnittaufnahmen wurden zuvor mit einem modernen optischen Kohärenztomografie-Gerät gemacht.

Die Vermessung des Augapfels: Diese Aufgabe hat heute der Computer übernommen. Mit künstlicher Intelligenz wird nach kranken Mustern in der Netzhaut gesucht.
Foto: Katsey

Die Medizinerin hat mit ihrer Arbeitsgruppe das Verhalten von Drusen über einen langjährigen Zeitraum modelliert. Dadurch war es möglich, ein charakteristisches Entwicklungsmuster der Drusen abzuleiten. Liegt genau dieses Muster vor, ist davon auszugehen, dass die AMD fortschreiten wird. "Anhand der Mustererkennung können wir künftig frühzeitig voraussagen, ob sich bestehende kleine Drusen krankhaft weiterentwickeln", so Schmidt-Erfurth.

All das ist aber nur möglich, weil man inzwischen riesige Datenmengen verarbeiten kann. Die von modernen optischen Kohärenztomografie-Geräten gelieferten dreidimensionalen Bilder bestehen aus rund 60 Millionen Pixel, was eine Auflösung von fünf Mikrometer (ein Mikrometer ist ein Millionstel eines Meters) ermöglicht.

Algorithmen sind genauer und schneller als Augenärzte

Das bedeutet, dass die moderne Netzhaut-Bildgebung gigantische Mengen an anatomischen Informationen wie zum Beispiel Charakteristika von Drusen bei AMD liefert. Diese umfassenden Datenmengen werden automatisch mittels Algorithmen analysiert. "Die Algorithmen sind genauer und schneller, als es jeder Ophthalmologe sein kann", sagt Schmidt-Erfurth. Sie können bereits kleinste Veränderungen einzelner Strukturen identifizierbar und quantifizierbar machen.

Wie schaffen die automatischen Algorithmen diese Mustererkennung? Sie lernen zunächst aus einer großen Zahl von Beispielen, ähnliche Muster zu interpretieren und zu klassifizieren. Angedacht ist, dass niedergelassene Augenärzte diese "Decision Support Systeme" für die AMD-Früherkennungsuntersuchung beim Patienten zur Verfügung haben.

Das wird noch etwas dauern, wäre aber von Vorteil. "Der Patient erhält dann eine Diagnose in einem Stadium, in dem das Sehvermögen noch erhalten ist und wir umgehend vorbeugende Maßnahmen einleiten können", so Schmidt-Erfurt. Der Augenarzt könnte dann die Patienten, für die es nötig wird, in einem nächsten Schritt für eine frühzeitig einsetzende individuelle Therapie an ein Makulazentrum überweisen. (Gerlinde Felix, CURE, 19.6.2019)