Autoritäre Regime entstehen durch einen schleichenden Prozess kleiner Schritte, warnt die Soziologin Ruth Simsa im Gastkommentar. Etwa, indem der öffentliche Diskurs durch eine ausgrenzende Rhetorik zunehmend polarisiert werde. Der Dramatiker Ewald Palmetshofer kritisierte in seiner Dankesrede für den Gert-Jonke-Preis am 24. März im Klagenfurter Konzerthaus den "regierenden politischen Sprech". Im Folgenden Auszüge:

"Aus der unendlichen, unabschließbaren Menge aller möglichen sprachlichen Äußerungen möchte ich mich auf nur eine ganz bestimmte Sprech-Situation konzentrieren: auf jenes Sprechen, das Welt eröffnet, das JEMANDEM Welt eröffnet. Es ist dies ein sprechen MIT und FÜR. MIT jemandem sprechen, und FÜR ihn oder sie eine Welt öffnen, eröffnen, weiten, im horizontalen Sinne weiter auf machen. Das bedeutet, sprechend, sprachlich oder vielleicht auch gestisch vermittelt helfend hinzuweisen auf die Welt, auf die Dinge der Welt, jemandem Welt erschließen, aufschließen und öffnen, sie weiter, breiter, sie auf machen. Ich meine damit ein Sprechen, das dienlich ist, ein Sprechen, das dem oder der, an den oder die es sich wendet, Welt zeigt, ein Sprechen, das Welt eröffnet, wo Welt sich verschließt, das Welt aufschlüsselt, wo Welt als Verschlossenes, Abwesendes, Abweisendes, Abgewandtes, Unbekanntes, Unsichtbares, Ungekanntes erscheint. Dem anderen Menschen – ihm oder ihr – sagen: 'siehe, da, schau, dies gibt es, dies alles auf der Welt, dies gibt es dir, FÜR dich'.

Ewald Palmetshofer: Das Politische ist sprachlich vermittelt. Es IST Sprache.
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Wir sind als diese Sprachwesen, die wir sind, – schmerzlich, auf Gedeih und Verderb ausgeliefert – angewiesen, dass da jemand ist, der sagt: 'sieh, da, schau, dies, du, dir, für dich'! Es ist diese Geste, dieses Sprech-Handeln, dieses 'Dies-schau-da', das wir – vom Kind zum Greis an allen Orten zu allen Zeiten in größter Not – immer wieder und immer schon benötigen. Wo es fehlt, bleibt Welt verschlossen, werden Lebenschancen verunmöglicht und vertan, verhunzt, verschissen und – vor allem: vorenthalten. Dann bleiben wir eingeschlossen in einer uns verschlossen scheinenden Welt. Wo dieses 'Dies-schau-da' fehlt, bleiben wir ab- und ausgeschlossen, wir bleiben gebunden, gefesselt, gefangen an unseren sozio-ökonomisch bestimmten Orten, ausgeschlossen von Teilhabe, Zugang, Chance, Welt-Wissen, Welt-Sicht und Welt-Habe.

Es gibt kein – ich betone: KEIN – natürliches Habitat des Menschen – auch wenn man uns gerade und vor allem jetzt das Gegenteil einzureden versucht. Nein, es gibt nur Welt, und diese Welt ist – völlig unnatürlich – sprachlich vermittelt und von sozialen, ökonomischen, interessengeleiteten, Klassen- (ja, es gibt sie noch), Bildungs- und Geschlechterverhältnissen zerfurcht, zerteilt und in abgeschlossene Teil-Welten zerschnitten.

Sprechen, das Welten öffnet ...

Es gibt da aber ein Sprechen – lassen Sie es uns 'emanzipatorisches' Sprechen nennen, das nicht müde wird, immer wieder sprechend zu sagen: 'dies, schau, da'. Ein Sprechen, das die Zerstückelung der Teil-Welten aufzuheben versucht, das neue Verbindungen herstellt, das Öffnungen erwirkt und ermöglicht, das die Perspektiven auf Welt erweitert und weitet. Ein Sprechen, das ermächtigt, das der Selbstermächtigung dient, das neue Welten eröffnet. Ein Sprechen, das die Orte, an denen wir zufällig der Geburt nach auf dieser Welt eingeschlagen sind, nicht als Fatum, als Schicksal, als Verdammung naturalisiert. Nein. Sprechend ist uns aufgegeben einander die Welt zu eröffnen und als offen zu vermitteln.

Wahrscheinlich ahnen Sie es schon: Dieses emanzipatorische Sprechen, dieses Sprech-Handeln als Öffnung von Welt, könnte auch eine Art Lackmustest sein um den ätzenden Sprech der Gegenwart zu testen, zu analysieren, sichtbar zu machen, dazu zu zwingen Farbe zu bekennen. Das Politische ist sprachlich vermittelt. Es IST Sprache. Und daher tauchen wir also unser eben extrahiertes, gewonnenes, öffnendes 'Dies-da-schau', dieses Stückchen Papier in den uns umgebenden, uns befallenden, uns perforierenden politischen Sprech der realen aktuellen Gegenwart. Und wir gehen wohlgemerkt vom Positiven aus, von der Er-Öffnung, und wir tauchen dieses Positivum in den regierenden Sprech. Und siehe da, schau! Der regierende Sprech erweist sich als permanente Sprech-Handlung der Anhaltung und der Verschließung. Nichts an ihm ist emanzipatorisch, nichts daran eröffnet uns eine weitere, also horizontal geweitete Welt.

... oder verschließt

In unserem Lackmustest gibt er sich farbenfroh zu erkennen als Sprech, der jeden und jede festhält an seinem und ihrem Ort. Er ist der Fürsprecher der kleinen Welt. Er sagt nicht: 'Dies, da, schau'. Er sagt: Bleib, wo du bist! Er sagt: Expertise: irrelevant, Wissen von der Welt: uninteressant. Er stattet uns nicht mit neuen Zugängen aus. Er will nur bewahren, was er glaubt, dass ist. Er ist konservativ, indem er uns abschließt und konserviert. Er will uns bewahren, das heißt: einschließen an den Orten unseres zufälligen Erstauftretens. Damit wir nicht gedeihen, wachsen, uns nicht entwickeln, über uns und unsere Verhältnisse hinaus. Er – der politische Sprech – will uns einsperren, und zwar alle, wo wir sind, in unseren Klassen- Geschlechts- und Herkunftszusammenhängen, in unserer Bildungsferne festhalten, in unserer Zukunftsangst, in unseren Hautfarben, Religionen, in unseren Deutschkenntnissen, unserer sozialen Immobilität, unserem angeblichen Früh- oder Spätaufstehertum.

Dieser politische Sprech, dieses permanente nicht enden wollende politische Sprech-Handeln agiert an einigen wenigen öffentlich sichtbar aus – Anlass-gesetzgebend mitunter – was es an allen klandestin, klammheimlich verrichtet: die Verschließung der Welt und die Zementierung der Verhältnisse: Jeder bleibe an seinem Ort. Und das ist tatsächlich – mögen wir uns nicht täuschen – radikal universal zu verstehen – es meint uns alle – ob geografisch oder sozio-ökonomisch: der Ausländer bleibe Ausländer und am besten im Ausland und der Bildungsferne bleibe in seiner klassistisch segregierten Leistung-muss-sich-auch-auszahlen-Schule, in der der politische Wille bekannterweise den bildungswissenschaftlichen Forschungsstand mit einem Hand- oder Gesetzesstreich sträflichst, tödlichst weggewischt hat. Er bleibe dort, bis man ihn oder sie brauchen kann, oder auch nicht.

Zu wem spricht der regierende Sprech?

Und der regierende Sprech streut uns Sand in die Augen und meint, wir merken es nicht. Er ist zutiefst, bis in die kleinste Faser, bis in die letzte Silbe seines Sprechens hinein anti-emanzipatorisch, klassistisch, klein-weltig und klein-geistig zugleich. Und ich sage es noch einmal: Diese Erkenntnis gewinnen wir nicht aus einer Anti-Haltung der Negativität, das lassen wir uns nicht unterstellen – die Leier kennen wir schon –, sondern wir gewinnen dies gemessen am Positiven des Er-Öffnens, der Welt-Zugänglichkeit für ALLE als unaufgebbare Aufgabe der Sprache also des Sprechens – also auch, verdammt nochmal, des politischen Sprechens. Und dieses Sprechen ist nicht nur die Verlautbarung allfälliger, scheinbar alternativloser Faktizitäten. Es ist jenseits seiner rechtsetzenden Sprech-Handlungen immer und unausweichlich ein Handeln, das den Menschen als Begriff und Bild mitsetzt. Und damit uns. Nicht nur spricht es zu uns – es macht uns für uns selbst und füreinander zu dem, was wir FÜR dieses Sprechen sind. Es setzt ein Menschenbild ins Werk, und dieses Bild dringt tief in uns, während es zu und über uns spricht.

Und hier setzt vielleicht ein zweiter Lackmustest ein, taucht ein, taucht sich ein in den herrschenden regierenden Sprech, und wir fragen: Zu wem spricht er? Wer sind die von ihm angenommenen, gesetzten Hörerinnen und Hörer seines Sprechens? Wenn man die Namensschilder rechtsstaatlicher Institutionen mir nichts, dir nichts austauscht – wer soll das lesen? Soll man sich Gerichtsgebäude vorstellen, die da plötzlich 'Verurteilungszentren' heißen? Und wenn er, der Sprech, von den Langschläfern spricht, wer hört da zu? Glaubt er, dass die, die da ausgereist werden sollen, ohnehin nicht lesen können, und die, die angeblich gewohnheitsmäßig die Morgenstunde, die da ja Gold im Mund hat, verschlafen, nicht zuhören? Weil, Entschuldigung!, wer macht denn das Gold und also das Geld? Und wenn da von Minderheitsrechten gesprochen wird und der Sprech verkündet, dies würde 96 Prozent ohnehin nicht betreffen, glauben sie, dass wir sie nicht hören? Glaubt dieser Sprech tatsächlich, dass jeder, der nicht ist, wie sie, nicht hören kann?

Wenn man die Namensschilder rechtsstaatlicher Institutionen mir nichts dir nichts austauscht – wer soll das lesen?
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Zwei Wege

Sie teilen die Welt, das Land, die Menschen in Hörende und Nicht-Hörende. Dieser Lackmustest ist also ein Hörtest. Und sein Ergebnis ist: Doch! Wir hören – the fuck – sehr gut. Und zwar jedes Wort. Aber das ist ihm egal, denn der real gegenwärtige Sprech geht von unserer Gehör- und Sprachlosigkeit aus und befördert sie. Und er kennt zu gut unsere Scham, die wir nicht sind wie sie, die wir bildungsfern, entfremdet, fremd, an Körper oder Seele krank, geschwächt, rothaarig, verunsichert, um Chancen betrogen, um Aufstieg und Selbstermächtigung geprellt, allein gelassen, einsam, Visions- und Zukunftslos, nicht-weiß-häutig, in der Minderheit, an unserer Verantwortung für uns und andere zerbrechen, finanziell kein Auslangen finden, zu jeder Morgenstunde einen Kampf gegen die Verzweiflung bestreiten, schief angeschaut werden und uns selbst schief anschauen wenn wir uns die Zahnbürste ins Gesicht schieben gleich am Morgen – falls wir dazu noch in der Lage sind, die wir all das sind und noch mehr und wir uns schämen. Und sie kennen unsere Scham und mit ihr arbeiten sie. Denn der Sprech glaubt zu wissen: zwei Wege stehen uns offen.

Erstens: Wir gehen ihnen auf den Leim und denken – wenn sie so sprechen – damit meinten sie nicht uns. Sollen sie den anderen ruhig die Welt verschließen, weil damit meinten sie nicht uns. Und wenn man den einen die Welt verschließt, dann muss das doch den anderen, also uns, eine Welt – wenn schon nicht eröffnen – so doch zumindest offen halten. Das sollen wir glauben. Das ist des Sprechs Lüge. Das ist sein Sprech-Handeln der Endsolidarisierung. Und manchmal fallen wir drauf rein.

Oder zweitens: Wenn sie so sprechen, ist uns alles klar und wir wissen ganz genau, wen sie meinen. Nämlich eh uns. Der Sprech der Verschließung und Ausschließung spricht und spricht uns an und ruft uns an bei den Namen, die sie uns geben, und wir hören sie und wissen, dass wir gemeint sein. Dann schauen wir uns kurz um, halten inne, blicken sie vielleicht an, und dann – sie kennen unsere Scham – blicken wir zu Boden. 'Ja, dich meine ich', hören wir, auch wenn sie es nicht sagen. Sie haben ihr Urteil über uns gesprochen – schon längst – immer zu – und wir hören es, weil wir es schon immer gehört haben, wir ANDEREN, von Anfang an, dass wir nicht normal sind, dass wir eine Schande sind, dass wir bleiben sollen, wo wir sind, im besten Fall, wo der Pfeffer wächst, dass man mit uns also wirklich keinen Staat macht, dass wir suspekt sind, dass es schon seine Gründe haben wird, warum wir sind, wo wir sind, dass es neuerdings keine Verhältnisse mehr gibt sondern wir selbst ein einziges Verhältnis also Verhängnis sind, nämlich unser eigenes und das haben wir uns dann wirklich selber zuzuschreiben und basta aus. Die Schließung hat sich geschlossen, wir senken unseren Kopf, angerufen und verurteilt ewiglich zu bleiben wo wir sind: weltlos, bildungsfern, prekär. Und paralysiert in unserer Scham, in unserer Randständigkeit gelähmt.

Diese zwei Wege gewährt uns der aus- und abschließende Sprech. Treten oder Bücken. Neid oder Scham. Überlegenheits- oder Minderwertigkeitsgefühl. Das seien unsere Alternativen. Einen dritten Weg gibt es nicht. Für den real existierenden regierenden politischen Sprech.

Das Spektrum erweitern

Aber nicht für uns – das ist die gute Nachricht – sind wir doch, sind Sie doch hoffentlich mit mir vom Positivum ausgegangen. Und so fordern wir ein anderes Sprech-Handeln, ein anderes Sprechen. Lassen Sie uns ein politisches Sprechen fordern, das Welt öffnet, das Chancen mehrt, das Bildung anbietet und ermöglicht – vom Kind zum Greis –, das herausführt aus Entfremdung, Scham und Prekariat, das dafür einsteht, dass Herkunft und Klassenursprung kein Verdikt, kein lebenslängliches Urteil sind. Lassen Sie uns sprech-handelnd einen Menschen setzen, der das Öffnende sucht, dem die Entfaltung eingeschrieben ist, in Gemeinschaft und solidarischer Gleichheit. Einen Menschen der weiß, dass er ohne andere sprechende Wesen nicht sein kann. Denn es gibt nur, für jeden und jede, was sprachlich er- und aufgeschlossen ist, wenn da jemand sagt: siehe, schau, dies, da, du!

Lassen Sie uns ein Sprechen pflegen, das das Spektrum der Dinge, die sind, erweitert und vermehrt, indem es bisher Nicht-Bekanntes, Nicht-Gewusstes, Unsichtbares, Ungehörtes, Ungewöhnliches, Überraschendes beim Namen nennt, ihm erfinderische Namen gibt, und damit neue Möglichkeiten, Perspektiven, Begabungen eröffnet. Ein Sprechen, das arbeitet – an der Mehrung der Vielheit in unserer Welt für alle." (Ewald Palmetshofer, 3.4.2019)