Konservative Zögerlichkeit, als schöne Kunst des Staatslenkens verstanden: Angela Merkels berühmte Raute.

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Gestandene Konservative neigen mit Blick auf die Werte, die sie unbeirrt hochhalten, häufig zu Galgenhumor. Der Mainzer Historiker Andreas Rödder, im bundesdeutschen Alltagsleben CDU-Mitglied, erläuterte die zugrunde liegende Haltung in einem Feuilletontext wie folgt: Der Konservative wisse, dass es immer schlechter werde. Er gebe sich nur nicht der Illusion hin, dass es früher besser war.

Seit bald drei Dekaden sind sich die politischen Beobachter in ihrer Beurteilung einig: Der politische Konservatismus leidet nicht nur in Deutschland an akuter gedanklicher Auszehrung.

Etwa zu Beginn der 1980er-Jahre waren CDU und CSU noch voller Zuversicht angetreten, der damaligen Bundesrepublik eine "geistig-moralische Wende" zu verpassen. Geistig-moralische Wende nennt sich auch das neue Buch des in Frankfurt lehrenden Politologen Thomas Biebricher, vielsagender Untertitel: "Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus". Tatsächlich stehen die Verfechter von Demut, Pflichtgefühl und Würde vor den Trümmern ihrer einst erhabenen Ideengebäude. Die Union gleicht – im Spätherbst von Angela Merkels Kanzlerschaft – einem Verein von konturlosen Sachbearbeitern. Das Nachlassen konservativer Bindungskräfte wird übrigens auch nicht von der CSU-Idee aufgewogen, bayerische Klassenzimmer mit Kruzifixen zu verschönern.

Angebote zur Besinnung

"Zukunft braucht Herkunft", so – oder so ähnlich – titelten die Wortführer der konservativen Anthropologie, Odo Marquard, Arnold Gehlen oder Günter Rohrmoser, ihre Schriften. Es handelte sich um Angebote zur Besinnung. Das Gros ihrer Verlautbarungen entstand in unmittelbarer Nachbarschaft zu den Umwälzungen von 1968. Dem Gespenst einer schrankenlosen Anarchie wurden voller Besorgnis Appelle an den Gemeinsinn entgegengesetzt.

Helmut Kohl und Konsorten sprachen es nach: Die Bundesbürger sollten nicht mehr bloß den (Sozial-)Staat fragen, was er für sie tun könne. Sie sollten, in klarer Orientierung an der Tugendlehre Max Webers, lieber die eigenen Kräfte in den Dienst der Allgemeinheit stellen. Genuss und Verbrauch erscheinen dem Konservativen dann zumutbar, wenn sie sich aufschieben lassen. Ansonsten sind sie ihm ein Gräuel.

Das sich überschlagende Tempo einer als bedrohlich wahrgenommenen Modernisierung wurde mehr oder minder treuherzig kompensiert. Doch die Beschwörung von Bindungskräften, die den Schleudergang aufhalten sollen, enthält ein Paradoxon.

Rückgriff auf die Substanz

Überzeitliche Werte stehen angeblich bereit, um die Menschen von der Lösung aus allen Bindungen (Gott, Vaterland, Familie ...) zu entlasten. Doch indem der Konservative für die Bewahrung des Status quo eintritt, übernimmt er, ohne es zu wollen, bereits eine Vielzahl von Modernismen. Jeder noch so weitreichende Rückgriff auf die Substanz unseres Zusammenlebens erfolgt, recht verstanden, zu spät. Das konservative Projekt gleicht dem Haschen nach Schatten. Es reklamiert, was von jeher unwiederbringlich ist.

Erst die Wahrnehmung solcher Schieflagen schärft den Blick für die Widersprüche heutiger konservativer Politik. Biebricher zeichnet die Konturen eines "prozeduralen Konservatismus", der sich bewahrend gibt und damit ausgerechnet mit den Anforderungen des Neoliberalismus in Kollision gerät. Es sind z. B. die Zumutungen der Flexibilisierung, die das Modell der Kleinfamilie besonders nachhaltig zerstören. Der Appell an Menschen, sich möglichst geringfügig beschäftigen zu lassen, huldigt dem neoliberalen Markt, verrät jedoch unweigerlich das konservative Menschenbild. Auch Bundeskanzler Sebastian Kurz steht gelegentlich im Bann solcher Widersprüche.

Überbehütete Nester

Ausgestanden für einen Konservatismus 2.0 ist längst nicht die Gefahr des Populismus. Biebrichers ausgreifende Rückschau erinnert an die ängstliche Überbehütung der eigenen Nester, an die "raumbezogene Intoleranz", die sich in der "Reizbarkeit der Völker gegen Verletzungen ihrer Territorialgrenzen" äußere. Warnungen solcher Art stießen rechte Denker wie Gehlen 1969 aus. Damals dienten sie vor allem der Feindabwehr im Inneren. Geschmäht wurde der "Universalismus" der 1968er. Rechte Patrioten stählt bis heute das weniger belegte als im Ton der Reizbarkeit proklamierte Wissen: Für alle reicht es nicht! (Ronald Pohl, 2.3.2019)