Die ehemalige Grünen-Politikerin Spiess-Hegglin klagt die Schweizer Boulevardzeitung "Blick" wegen Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte – ein möglicher Musterfall.

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Es könnte teuer werden ab 10. April für den größten Schweizer Verlagskonzern Ringier und seine Boulevardzeitung Blick. Jolanda Spiess-Hegglin klagt die Zeitung auf Verletzung ihrer Persönlichkeitsrechte über mehr als vier Jahre. Seit der Blick am 24. Dezember 2014 "Hat er sie geschändet?" titelte.

Diese Schlagzeile flankierte das Bild der damaligen Grünen-Politikerin im Kantonsrat des Kantons Zug und eines SVP-Politikers, der ebenfalls in dieser Art Landtag saß.

Am 21. Dezember 2014 war Spiess-Hegglin nach einer Regionalfeier ohne Erinnerung, wie sie heimgekommen war, aber mit starken Schmerzen im Unterleib aufgewacht. Mit einem Bild im Kopf: ein SVP-Politiker, untenrum nackt, über ihr, ein zweiter grinsend neben ihr. Sie fährt ins Spital, berichtet von der mut maßlichen Vergewaltigung, wird untersucht. Fotos der Blessuren werden gemacht, ohne Speicherkarte allerdings, berichtet Vice später aus den Untersuchungs akten. Blut- und Urinproben auf K.-o.-Tropfen werden demnach erst spät genommen – obwohl solche Substanzen nicht lange nachzuweisen seien.

Die Rechtsmedizin findet DNA-Spuren des SVP-Politikers im Genitalbereich der Politikerin und eines zweiten Mannes an der Unterwäsche der Grünen – die jedenfalls laut Vice nicht näher untersucht werden.

Täter und Opfer

Für Schweizer Regional- und Boulevardmedien ist schon mit dem negativen Test auf Betäubungsmittel gänzlich klar: keine Vergewaltigung, keine Schändung, aber eine Verleumdung – des SVP-Kollegen durch die Grünen-Politikerin.

Zum "Sex-Skandal", zur "Sex-Affäre" und zum "Techtelmechtel" wurden die Ereignisse in den Medien verharmlost. Blick titelte vom "ausgekochten Luder", vom "Nümmerchen für 48285,84 Franken" (Entschädigung und Verfahrenskosten für den SVP-Politiker), über "die sechs Männer um Jolanda Spiess-Hegglin", ihr Mann wurde dort als "Gehörnter" bezeichnet, und mit: "Und immer noch sucht sie Ausreden".

Ein Strafverfahren gegen den SVP-Politiker wurde eingestellt, rechtskräftig. Die Staatsanwaltschaft ermittelte nicht wegen Vergewaltigung, weil sich Spiess-Hegglin bis auf das eine Bild in ihrem Kopf nicht konkret daran erinnerte. Sie ermittelte wegen Schändung, doch dafür müssten betäubende Substanzen nachgewiesen sein.

Die Staatsanwaltschaft in Zug wiederum ließ 2018 nach dreieinhalb Jahren Ermittlung verlauten, dass Spiess-Hegglin den SVP-Politiker nicht fälschlicherweise beschuldigt hätte.

Presserat und Prozess

Für den Schweizer Presserat war der Fall klar: Der Blick habe die Privat- und Intimsphäre Spiess-Hegglins mit seiner Berichterstattung verletzt.

Ab 10. April geht es vor Gericht darum, ob die Schweizer Boulevardzeitung die Persönlichkeitsrechte mit ihrer Titelstory vom 24. Dezember 2014 verletzt hat. Bekommt Spiess-Hegglin da recht und erlangt diese Entscheidung auch durch alle Instanzen Rechtskraft, dann kann es für den Blick teuer werden.

Denn Spiess-Hegglin will den Verlag auf dieser Basis auf Herausgabe des Gewinns mit den Storys über den Vorfall einklagen. Und der, so sagt ein Gutachter, lässt die Millionen-Franken-Marke deutlich hinter sich.

Warum klagt Spiess-Hegglin Ringier nun und mit diesem bisher seltenen Zugang? "Ich will Trashsjournalismus und Persönlichkeitsverletzungen nachhaltig abstellen", sagt sie auf Anfrage des STANDARD. "Ich will, dass in jeder Redaktionssitzung sehr genau darüber nachgedacht wird, welche Namen veröffentlicht werden und was über diese Menschen. Immer mit dem Gedanken: Passiert uns dasselbe wie mit Spiess-Hegglin?" Eine allfällige Klage um Gewinnherausgabe ist mit hohem finanziellen Risiko verbunden. Eine solche Klage könnte Vorschusskosten von bis zu 60.000 Euro bedeuten.

Eine Entschuldigung

Der Gutachter ist Hansi Voigt, ehemaliger Chefredakteur der größten Schweizer Zeitung 20 Minuten und Gründer des Onlinedienstes Watson. Und Artikel über den Vorfall in Zug kurz vor Weihnachten zählten über die Jahre regelmäßig zu den zugriffsstärksten in der Schweiz, berichtet Pascal Hollenstein des Regionalzeitungsverbunds CH Media der Neuen Zürcher Zeitung gerade. Hollenstein ist publizistischer Leiter dieser Mediengruppe, zu der auch die Zuger Zeitung gehört. Hollenstein war laut Spiess-Hegglin bisher auch der einzige Journalist, der sich für die Berichterstattung öffentlich entschuldigte, für "Vorverurteilungen, Ungenauigkeiten und die Verbreitung zum Teil ungenügend verifizierter Informa tionen zuungunsten von Jolanda Spiess-Hegglin".

200 Hassposter angezeigt

Das von den klassischen Medien entwickelte Bild prägte die Onlinedebatte in Foren und sozialen Medien. Spiess-Hegglin wehrte sich auch hier. An die 200 Menschen hat sie angezeigt – "Menschen, die mich beschimpft haben oder bedroht, aufgrund der falschen Berichterstattung".

Mit vielen dieser Menschen trifft sie sich. Und zieht die Anzeigen bei jenen zurück, die sich entschuldigen und Reue zeigen, und oft auch überrascht, wie sie wirklich ist. Es hilft, oft jedenfalls, wenn man "Hater aus der Anonymität holt" und mit ihnen Kontakt aufnimmt, ihnen klarmacht, was sie da tun, erklärt sie. Mit der Erfahrung hat Spiess-Hegglin den gemeinnützigen Verein Netz courage.ch gegründet, der Opfern von digitalen Angriffen hilft und auch Anzeigen für sie verfasst.

Netzcourage.at

Die Adressen netzcourage.at und netzcourage.de hat sie schon registriert. Noch ist sie in der Schweiz zu sehr beschäftigt, aber "wir sehen auch in Österreich die Notwendigkeit", erklärt Spiess-Hegglin.

Der Fall der ehemaligen Grünen-Abgeordneten Sigi Maurer "wäre in der Schweiz nicht passiert, das Schweizer Gesetz schützt da besser", sagt sie. Sie habe schon "dutzende Privatnachrichten eingeklagt" und "immer recht bekommen". Auch dort haben Inhaber von Accounts erklärt, sie wären gehackt worden und hätten die Nachricht nicht selbst verfasst – diese Verfahren wurden eingestellt. (Harald Fidler, 3.4.2019)