Bei vielen jungen Menschen in der Türkei kommt Religion aus der Mode.

Foto: AFP / Bulent Kilic

Das Viertel um den Galataturm im europäischen Teil Istanbuls war einst eine verrufene, nicht ganz ungefährliche Gegend. Rund um die charmant morbiden Fin-de-Siècle-Bauten (der Stadtteil war zur Jahrhundertwende vor allem von Italienern und Franzosen bewohnt) tummelten sich vor zehn Jahren noch Teenager und Studenten. Man trank Wein, Bier und Raki, und irgendwo spielte immer Musik. So zumindest erzählen es wehmütig säkulare Türken.

Wer heute an einem Frühlingswochenende zum Galataturm spaziert, sieht dort Myriaden von Mädchen mit Kopftuch, deren Hauptbeschäftigung es ist, ein Selfie von sich und dem gut 650 Jahre alten Turm zu machen. Verrucht ist daran nichts mehr, und Alkohol auf der Straße zu trinken ist ohnehin seit 2014 verboten. Angesichts der brachial-religiösen Rhetorik des türkischen Staatspräsidenten Tayyip Erdoğan und zahlreicher Gesetze, die den Alkoholkonsum im öffentlichen Raum einschränken – so darf zum Beispiel im Umkreis von 100 Metern um eine Moschee kein Alkohol ausgeschenkt werden –, liegt der Schluss nahe: Die Türkei wird immer religiöser.

"Neue Zivilisation"

Eine Umfrage des türkischen Meinungsforschungsinstituts Konda zeigt jetzt jedoch eher das Gegenteil: Der Anteil junger Türken, die sich als religiös oder konservativ bezeichnen, ist in den vergangenen zehn Jahren um die Hälfte gesunken. Waren es 2008 noch 28 Prozent der 15- bis 29-Jährigen, so sind es heute nur noch 15 Prozent. Auch die Zahl der Jugendlichen, die während des Ramadan fasten, ging von 74 auf 58 Prozent zurück.

Der Trend ist gegenläufig zu Erdoğans Plänen. Dessen erklärtes Ziel ist es nämlich, eine "fromme Generation heranzuziehen", die eine "neue Zivilisation aufbauen" sollte. Unterstützen sollen diesen Plan die İmam-Hatip-Schulen. Erdoğan selbst hat eine dieser Schulen besucht, die ursprünglich für die Ausbildung von Predigern und Imamen gedacht waren. Die Kommunalwahlen am Sonntag, die für Erdoğans AKP herbe Rückschläge brachten, zeigten jedoch, dass seine Rechnung nicht ganz aufgeht.

Nicht nur in, sondern auch auf den Köpfen tut sich etwas. Zwar gibt es keine offiziellen Zahlen dazu, wie viele junge Frauen heute ein Kopftuch tragen. Vor einigen Wochen aber war der Hashtag #10YearChallenge populär im türkischen Netz. Darunter zeigten Frauen Fotos von sich mit Kopftuch vor zehn Jahren – und heute ohne.

Trotz staatlicher Bemühungen scheint also die Islamisierung nicht recht voranzukommen. Ein Grund könnte in der Internetnutzung liegen. Die ist nämlich laut der Konda-Umfrage ebenfalls stark gestiegen. 70 Prozent haben heute einen Rechner, vor zehn Jahren waren es nur 42 Prozent. Smartphones mit permanentem Internetzugang gab es vor zehn Jahren noch kaum. (Philipp Mattheis aus Istanbul, 3.4.2019)