Paolo Gentiloni war von Dezember 2016 bis Juni 2018 italienischer Ministerpräsident, ...
Robert Newald

STANDARD: Haben Sie Lust auf eine kleine Wette? Wie wird diese Sache mit dem Brexit ausgehen?

Gentiloni: Eine Wette wäre zu riskant. Wir müssen hoffen, dass es keinen Austritt ohne Vertrag geben wird. No Deal wäre schwerwiegend für Europa – für die Briten aber katastrophal. Die einzige Lösung ist wohl, dass die Briten um eine lange Fristverschiebung ansuchen, im Gegenzug dafür aber Garantien geben: etwa ein zweites Referendum oder vorgezogene Neuwahlen. Das bedeutet dann aber auch, dass die Briten an der EU-Wahl im Mai teilnehmen.

STANDARD: Sie sprechen von einer Verschiebung bis Ende 2020?

Gentiloni: Ja, sonst stehen wir vor einem Austritt ohne Vertrag am 12. April. Und dieser Tag ist sehr nahe. Man sieht, dass es keine klaren Mehrheiten im britischen Parlament gibt, außer vielleicht bei einer Zollunion. Die EU ist jedenfalls nicht in der Lage, ohne neues politisches Angebot einer langen Verschiebung zuzustimmen.

... in Wien traf der sozialdemokratische Abgeordente nicht nur Bundespräsident Alexander Van der Bellen ...
Robert Newald

STANDARD: Wäre in Ihrem Land ein "Italexit" möglich?

Gentiloni: Nein, aber die italienische Regierung spielt mit dem Feuer. Die Öffentlichkeit gegen die EU aufzuhetzen, immer wieder den Austritt aus der Gemeinschaftswährung ins Spiel zu bringen, andauernd ein Referendum zu fordern: Das alles sind Schritte in eine gefährliche Richtung.

STANDARD: Italiens Wirtschaftszahlen sind beunruhigend. Wird Europa nach dem englischen einen italienischen Patienten bekommen?

Gentiloni: Dem italienischen Patienten ging es schon wieder halbwegs gut, er erholte sich von der harten Krise 2010 bis 2012. Und nun? Nach nur zehn Monaten mit dieser neuen Regierung sind wir schon wieder in eine Rezession geschlittert. Dafür ist sie durch ihre Drohungen, Versprechungen und Streitereien zum Teil selbst verantwortlich, zum Teil aber auch durch die Lage in anderen EU-Ländern. In dieser Phase sind wir exponiert, weil die Regierung alle Maßnahmen gekappt hat, die eine Rezession vermeiden könnten. Sie hat sich stattdessen auf Pensionen und Mindesteinkommen konzentriert. Das ist falsch, das wirkt nicht antizyklisch, das kontrastiert nicht mit der Rezession, sondern betont sie vielmehr.

... und Ex-Präsident Heinz Fischer ...
Robert Newald

STANDARD: In Umfragen zur EU-Wahl liegt in Italien die rechte Lega vorn, dahinter Ihr Partito Democratico und die populistische Fünf-Sterne-Bewegung. Glauben Sie an Platz zwei oder sogar eins?

Gentiloni: Ja, denn wir haben eine sehr klare Botschaft: Wir sind die Antwort auf jene, die Europa langfristig zerstören wollen. Wir wollen Europa retten und neu beleben. Dieses Mal sind wir an der Wurzel angelangt. Glauben wir an das europäische Projekt – mit allem, was man auch ändern muss? Oder wollen wir zurück in unsere Nationalstaaten aus der ersten Hälfte des vorigen Jahrhunderts? Vor solche Alternativen gestellt, denke ich, dass es eine gute Chance für unsere Auffassung Europas gibt. Und was tun mit der nationalistischen Rechten? Kann man mit ihr eine Ehe eingehen? Das hielte ich für einen Fehler! Nicht nur für die Forza Italia in meinem Land, sondern auch hier für die ÖVP.

STANDARD: Warum?

Gentiloni: Wenn man eine moderate, proeuropäische Position hat, die christliche Werte achtet, dann ist eine Koalition mit nationalistisch-antieuropäischen Kräften ein Risiko. Die Infizierung ist in Italien schon ganz offensichtlich, und zwar bei fundamentalen Themen wie den demokratischen Freiheiten. Sich mit den Feinden Europas zu verbünden führt nicht dazu, sie zu zähmen. Es führt da zu, sich selbst zu schwächen.

..., sondern auch SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner. Mission: Die EU-Wahl gewinnen.
Kurt Prinz

STANDARD: Sie haben SPÖ-Chefin Pamela Rendi-Wagner getroffen. Wann wird es in Italien eine sozialdemokratische Parteichefin geben?

Gentiloni: Ich habe in Wien die Bestätigung dafür bekommen, welche Kraft und Energie eine junge Frau an der Spitze einer Partei haben kann. Hoffen wir, dass es auch bei uns bald so weit sein wird. Aber wir haben schon jetzt Gemeinsamkeiten: Wir sind die Kraft der kohärenten europäischen Idee. Denn Europa kann keinen Wahlkampf gebrauchen, der von Ängsten und Gespenstern der Vergangenheit dominiert wird. (Anna Giulia Fink, Gianluca Wallisch, 2.4.2019)