Was am 4. Juli 1989 wirklich am Tian'anmen-Platz in Peking passierte, darüber will Chinas Führung bis heute nicht reden. Armeearzt Jiang Yanyong forderte die Politik nun zu einem Umdenken auf.

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Jiang Yanyong steht unter Hausarrest.

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Die kurze SMS-Nachricht kam Sonntagabend über Mobiltelefon: "Unmöglich, dass ich jetzt noch rausgehen kann. Warten wir ab. Ich hoffe, dass bei euch alles gut läuft! Doktor Jiang." Vor dem Eingang jenes Hauses, in dem der weltberühmte Arzt Jiang Yanyong wohnt, im Armee-Wohnblock Nummer 26, im Westen der Hauptstadt Peking, wachen Sicherheitsbeamte.

Der prominente Militärarzt, der einst die Welt auf die Sars-Epidemie aufmerksam machte, wird nun von der Außenwelt isoliert. Der Grund: Er verlangt offen eine Neubewertung der Geschehnisse vom 4. Juni 1989, als die Armee im Herzen Pekings unbewaffnete Studenten und Passanten niederschoss und hunderte dabei starben. Und er hat diesbezüglich gerade einen Brief an Staats- und Parteichef Xi Jinping geschickt.

Das sechsseitige Schreiben liegt dem STANDARD vor. Das Massaker sei nicht nur der "schlimmste Fehler", sondern das "schlimmste Verbrechen" gewesen, ist dort zu lesen. Die Partei müsse es aufarbeiten, ihre Angst überwinden, dass das Land dann in Chaos geraten werde. Eine mutige Korrektur "wird die Stabilität Chinas absolut nicht gefährden. Im Gegenteil: Die Führung wird dadurch die Unterstützung des Volkes und die Hochachtung des Auslandes erhalten."

Unter Hausarrest

Doch vorerst steht Jiang selbst unter Beobachtung: Er berichtete am Samstag, wie ihm die Staatssicherheit von zu Hause folgte, bevor er sie abschütteln konnte. Vergangenen Mittwoch habe er ein groteskes Erlebnis mit seinen Überwachern gehabt. Jiang stieg in ein Taxi, um zu einer Gesundheitsuntersuchung zu fahren. Nachdem er neben dem Fahrer Platz genommen hatte, setzten sich plötzlich zwei "junge Burschen" auf die Rückbank. Sie sagten nichts. Jiang wusste, wer sie waren: "Wenn ihr euch hier so reindrängt, dann machen wir wenigstens ein Selfie von uns." Er fotografierte sie via iPad, bevor die Beschatter reagieren konnten.

Aber hat Jiang keine Angst vor der Staatsmacht? Er lacht: "Überhaupt nicht. Ich breche keine Gesetze." Aber er werde nicht dazu schweigen, wenn Menschen willkürlich getötet werden. "Weil ich Arzt bin, weiß ich besonders, wie wertvoll jedes einzelne Leben ist." Er notiere, was ihm passiert, und informiere seine Tochter. Sie lebt in den USA und stelle alles online. Öffentlichkeit schütze ihn.

Trotzdem steht er nun zum dritten Mal seit 1989 unter Hausarrest. Chinas Herrscher fürchten den Militärarzt mit dem Dienstgrad eines Generalmajors wegen seiner Zivilcourage und seines Ansehens.

Anfang 2003 wurde auch das Ausland erstmals auf Jiang aufmerksam. Er warf damals Peking vor, die Öffentlichkeit anzulügen, um den Ausbruch der tödlichen Lungenseuche Sars (Severe Acute Respiratory Syndrome) zu vertuschen. Fassungslos hatte Jiang am 3. April 2003 im Fernsehen gesehen, wie der Gesundheitsminister Zhang Wenkang eine neue, sich von Kanton ausbreitende Epidemie herunterspielte. Es gebe nur wenige Einzelfälle, und diese seien "unter Kontrolle". Jiang wusste dagegen, dass immer mehr Infizierte heimlich in Pekings Militärkrankenhäuser eingeliefert wurden.

Funktionäre versuchten, seinen Protest zu verhindern. Jiang informierte darauf am 8. April den Korrespondenten für die US-Zeitschrift Time. Deren Bericht alarmierte die Weltgesundheitsorganisation (WHO). Chinas Führung musste handeln. Chinas Öffentlichkeit kürte Jiang zu ihrem Helden. Aus jener Zeit stammt das Titelbild eines populären Magazins, das den Arzt mit seinem Motto porträtierte: Das Interesse des Volkes hat über allem zu stehen. Jiang hat sich das Cover in der Wohnung aufgehängt.

Drei Ärztegruppen geleitet

Für die Partei aber war er nun ein Störenfried. Und das umso mehr, als er 2004, 15 Jahre nach dem 4. Juni 1989, öffentlich über jene Nacht berichtete, in der sich die Armee durch Peking den Weg zum Platz des Himmlischen Friedens freigeschossen hatte, um die dort kampierenden Demonstranten gewaltsam zu vertreiben. Das Militärkrankenhaus 301 lag am westlichen Changan-Boulevard, die Einzugsroute der Truppen. Zwischen 22 Uhr und Mitternacht wurden auf den 4. Juni 89 Verletzte mit Schusswunden eingeliefert, wie sie eigentlich geächtete Splittergeschoße anrichten. Jiang leitete als Direktor der Chirurgie drei Ärztegruppen, die bis in den Morgen operierten. Sieben Personen starben, schrieb er in seinem Brief am 21. Februar 2004 an Chinas Führung. In dem Schreiben forderte er diese auch auf, die Ereignisse neu zu bewerten.

Wie viele Menschen in Peking beim Massaker 1989 starben, weiß Jiang bis heute nicht. Es ist eines der bestgehüteten Geheimnisse der Volksrepublik. Schätzungen, die sich auf damalige Nachfragen bei den Krankenhäusern stützen, kommen auf viele Hunderte Tote.

Jiang jedenfalls ist seit der Nacht verändert. Sie hat ihn zu seinem Ein-Mann-Kreuzzug für die Rehabilitierung bewogen. Als Reaktion wurde er vom 1. Juni bis 19. Juli 2004 eingesperrt und danach acht Monate unter Hausarrest gestellt. Ins Ausland reisen durfte er seither gar nicht mehr.

15 Jahre später verlangt er nun in seinem zweiten Brief von der Parteispitze, den Mut zur Lösung des "schwerwiegenden Verbrechens" aufzubringen. Diesmal richtet er sich an Parteichef Xi persönlich, der für die Entscheidungen von 1989 selbst keine Verantwortung trug. Jiang hat den neuen Brief am 10. Oktober 2018 verfasst, schickte ihn aber erst im März ab, als Chinas sozialistisches Parlament tagte. Jiang setzt sein Schreiben von 2004 fort, als er die Parteiführung erinnerte, sich schon einmal korrigiert zu haben. Anfangs hatte sie vom 4. Juni als "konterrevolutionäre Rebellion" gesprochen. Dann nannte sie das Ereignis nur einen "politischen Sturm". Er schlage vor, nun den "richtigen Namen" zu nennen. "Es war eine "patriotische Studentenbewegung".

Gehütetes Geheimnis

Seit 30 Jahren ist die Aufarbeitung des Massakers ein politisches Tabu in der Volksrepublik. Wer es infrage stellt, muss mit Verfolgung und Bestrafung rechnen. Brisant ist an Jiangs Enthüllungen, wie umstritten die von Chinas starkem Mann Deng Xiaoping befohlene Protestniederschlagung innerhalb der Parteispitze war. Er nennt viele Beispiele, wie etwa den 1989 amtierenden Staatspräsidenten Yang Shangkun.

Der Militärarzt besucht Shangkun 1998 und hört von ihm: "Der 4. Juni war der schwerste Fehler in unserer Parteigeschichte. (... ) Haben unsere Führer heute den Mut, diesen Fehler einzugestehen?", fragt der Jiang am Ende seines Briefes. Haben Sie so viel Courage, wie einst der Seniorpolitiker Xi Zhongxun, als der starke Mann Deng seinen früheren Parteichef absetzen ließ, weil er ihm zu liberal war. Xi Zhongxun sei in den Raum von Deng gestürzt, "schlug auf den Tisch und beschimpfte ihn". Was in China jeder weiß: Seniorführer Xi war der Vater des heutigen Parteichefs Xi, an den Jiang seinen neuen Brief nun gerichtet hat. (Johnny Erling aus Peking, 3.4.2019)