Im Jahr 2018 wurden in Deutschland laut Kriminalstatistik 13.863 Kinder sexuell missbraucht. Die Dunkelziffer liegt wohl weit höher.

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Es begann nicht mit einem schrecklichen Übergriff, sondern schleichend, und zunächst war es gar nicht unangenehm. Wie alle anderen in der Konfirmandengruppe fand Katharina Sörensen den neuen Pastor in der niedersächsischen Landgemeinde toll.

So cool war er, verstand die Zwölf- bis 14-Jährigen, hatte immer Zeit. Ein klein wenig fühlte es sich schon seltsam an, wenn das 13-jährige Mädchen mit ihm eng umschlungen tanzte oder man sich bei sogenannten "Vertrauensspielen" gegenseitig massierte. Aber er war aufmerksam, die junge Katharina wurde wahrgenommen, das war damals das Wichtigste. "Die Grenzen wurden nach und nach verschoben", erinnert sich die heute 45-Jährige im Gespräch mit dem STANDARD. Dass sie wenig später regelmäßig mit dem Kirchenmann Sex hatte, fand sie zunächst völlig normal: "Meine Eltern hatten psychische Probleme und kümmerten sich kaum um mich. Da war endlich jemand, der für mich da war, ich hielt ihn für den Einzigen, der mich versteht." Nachsatz: "Damals habe ich den echt geliebt."

Doch es dauerte nicht lange, und sie fühlte sich schlecht, ohne den Grund zu kennen. Erst später, als die "Beziehung" beendet war, Katharina Sörensen studierte und sich mit Feminismus beschäftigte, wurde ihr klar: "Das war Missbrauch. Er hat meine emotionale Bedürftigkeit total ausgenutzt." Lange haderte Sörensen mit sich selbst. Denn: "Es gab ja keine körperliche Gewalt, und ich habe mich nie gewehrt."

35.000 Euro Schadenersatz

Sie studierte Linguistik und Religionswissenschaft, litt an einer posttraumatischen Belastungsstörung und brauchte 25 Jahre, um die Geschichte aufzuarbeiten. Dass sie 2016 von der evangelischen Kirche 35.000 Euro Schadenersatz erhielt, war eine Genugtuung, aber noch nicht das Ende.

2017 erzählte sie ihre Geschichte erstmals einem Mitglied der "Unabhängigen Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Kindesmissbrauchs". Diese wurde 2016 von der Bundesregierung per Bundestagsbeschluss eingesetzt und ist in dieser Form weltweit einzigartig, weil sie neben Institutionen wie Schulen auch die Familien in den Blick nimmt. Sie untersucht Strukturen und Dynamiken, die sexuellen Kindesmissbrauch in Deutschland, inklusive der ehemaligen DDR, möglich gemacht haben.

Der Staat duckt nicht weg

"Jede Geschichte zählt", lautet das Motto, und es gibt viele, die reden wollen. 1690 Betroffene haben sich an die Kommission gewandt, es wurden bisher 950 vertrauliche Anhörungen durchgeführt, die Experten erhielten zudem 322 schriftliche Berichte.

"Wir müssen aufarbeiten und verstehen lernen, wie es möglich war, dass so viele Kinder und Jugendliche missbraucht wurden, und warum ihnen nicht zugehört wurde", sagt Sabine Andresen, Professorin für Sozialpädagogik und Familienforschung an der Universität Frankfurt, die die Kommission leitet.

Dass die Kirchen sich unter Druck immer mehr dem Thema stellen müssen, findet sie richtig: "Es muss in unser aller Interesse sein, dass die Kirchen aufarbeiten." In Deutschland soll die Arbeit der staatlichen Kommission aber darüber hinaus zeigen: Der Staat duckt sich nicht weg, Aufarbeitung ist nicht die Angelegenheit einzelner Gruppen, sondern eine der gesamten Gesellschaft.

Man glaubte Kindern nicht

Durch die vielen Berichte der Betroffenen über Missbrauch zieht sich ein roter Faden, so Andresen: "Sie wussten als Kinder und Jugendliche, hier passiert etwas Falsches. Aber es ist besonders schwer, darüber zu sprechen, wenn sie noch keine Sprache für das Geschehene haben, der Täter sie unter Druck setzt oder wie im Fall der Kirchen der Täter ein Geistlicher ist. Viele Betroffene mussten damals auch die Erfahrung machen, dass ihnen nicht geglaubt wurde, wenn sie sich jemandem anvertrauten."

Auch als Erwachsene haben viele noch die Sorge, dass ihnen ohnehin nicht geglaubt wird. Daher fordert die Kommission von der Politik, die Ermittlungs- und Strafverfahren kindgerechter und sensibler zu gestalten.

Sie denkt an Schwerpunktstaatsanwaltschaften und Schwerpunktgerichte, wie es sie für Wirtschaftskriminalität bereits gibt. Dort sollen nur Kräfte mit spezieller Ausbildung arbeiten, außerdem sollten Jugendschutzverfahren vorrangig und ohne Verzögerung bearbeitet werden. Außerdem möchte sie in ganz Deutschland mehr Beratungsstellen für Opfer von Missbrauch.

Ein Motiv findet Andresen in den Gesprächen immer wieder: "Die Menschen wollen ihre Geschichte erzählen, damit Kinder heute besser geschützt werden können und ihnen schneller geholfen wird." Auch Katharina Sörensen, die bei einem öffentlichen Hearing der Kommission auftrat, sieht dies so: "Es geht nicht um irgendwelche Statistiken, sondern um Menschen, denen das passiert ist. Und jeder, der erzählt, spricht auch für die vielen, die nicht erzählen können." (Birgit Baumann aus Berlin, 8.4.2019)