Es gibt wohl nur wenige Wissenschafter von den großen US-Unis, die sich scheuen, vor Publikum zu sprechen. Den meisten von ihnen scheint es sogar Spaß zu machen, es ist ja auch ein vermutlich recht gut bezahlter Teil ihres Jobs. Sie stehen auf der Bühne und erzählen von ihren Gedanken und Erkenntnissen mit einem gewissen Hang zum großen Kino – und meistens ist das auch noch recht unterhaltsam. So auch vergangene Woche, als die MIT Europe Conference zum siebenten Mal in der Wirtschaftskammer Österreich (WKÖ) stattfand. Wissenschafter des MIT (Massachusetts Institute of Technology) waren in der Bundeshauptstadt, um Vorträge über das Thema "Facing the Digital Challenge" zu halten. Unter ihnen: Ethan Zuckerman, Direktor des Centers for Civic Media am MIT, der es mit dem Thema "Misstrauen" in Zeiten von Social Media leicht hatte, das Publikum zu interessieren.

MIT-Wissenschafter Ethan Zuckerman bei seinem Besuch kürzlich in Wien.
Foto: Corn

STANDARD: Vor etwa zwei Jahren haben Sie im Interview mit dem STANDARD von Ihrem Essen mit einem Trump-Wähler gesprochen. Sie waren angetan und meinten, man müsse auch als Gegner des Präsidenten mit dessen Unterstützern reden, um sie besser zu verstehen. Es gehe um den Dialog zwischen Nichtgleichgesinnten. Haben Sie ihn wieder getroffen?

Zuckerman: Wir waren seither in regem E-Mail-Kontakt, er fragte mich nach einem neuen Termin für ein weiteres Mittagessen. Ich habe bisher nicht zugesagt. Ich gestehe, ich bin sauer. Die Hoffnung war ja, dass Donald Trump keine ganz große Katastrophe wird. Das Gegenteil ist eingetreten, er spielt seine Macht aus, um seine Wünsche und die vieler seiner Anhänger umzusetzen. Er rief etwa den nationalen Notstand aus, und zwar nur deshalb, um den Mauerbau an der Grenze zu Mexiko zu erzwingen. Trump benimmt sich nicht wie ein Präsident, er wäre offenbar gern Monarch mit unbeschränkter Macht. Die Gefahr, die da lauert, sieht der Mann, den ich zum Essen traf, nicht: Es zielt auf ein Aushebeln des Checks-and-Balances-Systems, das die Aufrechterhaltung der Gewaltenteilung in den USA garantiert.

STANDARD: Heißt also, dass das Experiment missglückt ist?

Zuckerman: Das würde ich nicht sagen: Es ist an der Zeit, dass ich zusage und wieder mit ihm rede. Ich habe auch ein zweites Experiment gestartet mit einem Trump-Wähler, der noch viel radikaler ist als der erste. Dazu muss ich ein wenig ausholen: Ich bin ja Berater des Investors und Philanthropen George Soros. Vielen Menschen gefällt das gar nicht, sie sprachen mich über meinen Twitter-Account an und schimpfen: Du bist ein Lügner, du lässt dir ein Leben von ihm finanzieren! Da kamen recht viele Tiraden. Ich antwortete immer wieder mit Fakten darüber, was ich konkret arbeite. Es geht ja dabei um Fragen des Menschenrechts. Konkret habe ich eine intensive Online-Konversation mit einem jungen, sehr konservativ denkenden Mann aus El Paso begonnen. Er erfuhr, dass meine Exfrau Rabbinerin ist, und meinte ernsthaft, ich möge sie doch fragen, ob Juden die Welt beherrschten ... Ernsthaft. (lacht) Ich antwortete nur, dass die meisten Menschen jüdischen Glaubens wie auch andere froh sind, wenn sie kontrollieren können, was im Alltag in ihrem Leben passiert. Ich rede trotzdem mit ihm, er ist wirklich interessiert, meine Meinung zu erfahren.

STANDARD: Hat sich das Klima in der Gesellschaft seit der Wahl Donald Trumps oder seit der Entscheidung der Briten für den Brexit verschärft?

Zuckerman: Die grundlegenden Veränderungen im gesellschaftlichen Klima geschahen schon lange zuvor. Wir hatten diese Supermächte, wir hatten Ideologien, die nicht funktionierten: auf der einen Seite den Kapitalismus, auf der anderen die sozialistische Ordnung. Nach dem Mauerfall haben sich Staaten wie Ungarn oder Polen von der liberalen Demokratie zum Populismus bewegt. Sie fragen sich vielleicht, warum ich erwähne, was wir alle jeden Tag merken: Der deutlichste Unterschied zwischen liberaler Demokratie und Populismus liegt in den Institutionen und Strukturen, die normalerweise für Ausgleich sorgen und zumindest versuchen, soziale Gerechtigkeit herzustellen. Sie haben deutlich an Einfluss verloren, stattdessen blüht der Nationalismus auf. Populisten haben dafür gesorgt, dass man diesen Institutionen und Einrichtungen viel weniger glaubt, dass man das Vertrauen verliert. Dass man ihnen nicht zuhört, wenn sie zu sagen versuchen: Die EU ist nicht so ein großes Problem, wie euch das die Brexit-Befürworter vermitteln wollen.

STANDARD: Welche Rolle spielen dabei die Medien? Fallen wir Journalisten und Journalistinnen auf Populisten rein?

Zuckerman: Meine Gruppe hat kürzlich eine Studie im Columbia Journalism Review publiziert, deren Ergebnisse beantworten vielleicht Ihre Frage: Wir haben dafür 6.000 Berichte aus Zeitungen und Onlinejournalen analysiert, die unmittelbar nach dem Massaker von Christchurch in Neuseeland veröffentlicht wurden – und zwar haben wir das nach den journalistisch-ethischen Kriterien für Berichte wie diese getan. Die sind ganz klar: Nenne weder den Namen des Schützen, beschreibe keinesfalls sein Manifest, diskutiere nicht über die "Ideen", die er darin beschrieben hat, schreibe auch nicht über das Forum, in dem er seine kruden Gedanken gepostet hat. Es geht darum, diesen Menschen nicht berühmt werden zu lassen. Zur Auswahl kamen Berichte aus Neuseeland, Australien, UK, Kanada und den USA. Die schlimmsten Storys waren in Boulevardblättern zu finden, nicht weiter überraschend zum Beispiel in der Sun. Was mich eher verwundert, ist der Zugang von Qualitätsmedien wie Guardian und BBC – die haben die erwähnten Kriterien auch verletzt und Fehler gemacht. In den USA nannten übrigens nur 13 Prozent den Namen des Killers.

Neuseelands Premiereministerin Jacinda Ardern: Die schlimmsten Storys über Christchurch , sagt Ethan Zuckerman, waren in Boulevardmedien zu lesen.

STANDARD: Arbeiten US-Journalisten also nach strengeren ethischen Richtlinien?

Zuckerman: Das mag überraschend sein, ich denke aber, es hat auch mit der Vielzahl an Massakern in den USA zu tun. Journalisten haben seit dem Anschlag in Charleston, South Carolina, im Juni 2015 gelernt, wie Attentäter ihre Worte für Botschaften missbrauchen können. Um in die Gegenwart zurückzukommen: Der Killer von Christchurch hat eine Botschaft auf die Waffe geschrieben, den Inhalt darf man nicht schreiben, weil man sein Gedankengut damit verbreiten würde. Es gibt nahezu keinen Journalisten, der nicht auf Facebook oder Twitter aktiv ist, damit kann man, auch wenn man es nicht will, Menschen beeinflussen. Ich freue mich, dass Sie mit mir reden, und möchte, dass die STANDARD-Leser und Leserinnen ein gutes Interview lesen. Sie wollen, dass Ihre Texte gelesen werden. Wir haben alle unsere Botschaften, dabei verfolgen wir vielleicht die besten Absichten, andere haben sie auch oder vielleicht nicht. Wie will man das unterscheiden als User? Man muss da vorsichtig sein. Allein der Zugang zur Aufmerksamkeit ist ein ganz anderer als noch vor ein paar Jahren. Das öffnet logischerweise Möglichkeiten zur Manipulation.

STANDARD: Ihr Buch "Rewire" ist 2013 erschienen. Infolge des Arabischen Frühlings schrieben Sie über die Chancen, die man im Demokratieprozess mit Social Media hat. Heute reden wir davon, wie schrecklich Social Media geworden ist. Müssen wir den Umgang mit Facebook und Co neu lernen?

Zuckerman: Rewire war mein erstes Buch, Mein aktuell fertiggestelltes Buch handelt von Misstrauen, und mein neues, das ich gerade zu schreiben begonnen habe, wird die mögliche Zukunft von Social Media behandeln. Ich denke, wir sind jetzt da angelangt, wo das Fernsehen in den USA Anfang der 1960er-Jahre war. Da hat man in der Federal Communications Commission (FCC) von Fernsehen als gewaltige Wüste gesprochen und Gefahren für die Gesellschaft gesehen. Dann ist das Angebot aber vielfältiger geworden – Ähnliches erwarte ich auch bei Social Media. Wir brauchen nicht das Ende von Facebook, wir brauchen so viele kreative Alternativen wie möglich. Sie könnten im öffentlich-rechtlichen Besitz sein, womit Qualität auch sichergestellt sein sollte. Natürlich ist Social Media derzeit schrecklich, eine gewaltige Wüste, weil zu viele Menschen es als Werbekanal nützen. Aber das muss es nicht sein. (Peter Illetschko, 8.4.2019)

MIT-Forscher Zuckerman auf der Bühne.
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