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Jeder/jede und alles braucht derzeit ein Narrativ.

Foto: Getty Images / Guven Demir

Es gibt in der öffentlichen Diskussion Begriffe, die diese für eine Zeitlang strukturieren. Meistens sind sie als Fremdwörter aus dem Bereich der Wissenschaft in den der Politik eingewandert. Der Diskurs gehörte ebenso dazu wie die Kommunikation, Identität, die Nachhaltigkeit oder, wenn man weiter zurückgreift, die Ideologie oder der Holismus.

Seit einiger Zeit hat sich das Narrativ einen solchen Spitzenplatz erobert. Politiker und Kommentatoren sprechen etwa davon, dass Europa oder eine bestimmte politische Partei ein neues Narrativ braucht. Was damit gemeint ist, bleibt einigermaßen unklar, aber darin liegt auch ein gewisser Reiz.

Die SPÖ Wien annonciert real und digital mit dem Konterfei ihres Bürgermeisters folgenden Slogan: "100 Jahre Rotes Wien. Viel getan. Viel zu tun." Das ist ganz bestimmt ein Narrativ oder genauer ein komprimierter Erzählkern.

Ein Narrativ, eine Erzählung oder ein Erzählmuster also, berichtet über Handlungen. Wer ich bin, lässt sich, individuell oder kollektiv, nur erzählen. An ihren Taten soll man sie erkennen.

Zum Beispiel die Wiener Sozialdemokratie, die in der Vergangenheit so viel Positives für die Stadt geleistet hat – ein Feststellungsmerkmal, das eben in eine Erzählung eingebunden ist. Die Erzählung ist die dynamische und interpretierende Seite dessen, was geschehen ist. Das Narrativ, dieser symbolische Wunderwuzzi, ist zugleich die Deutung dessen, was es erzählt.

Jemandem etwas erzählen

Aber damit lässt es der obige Slogan nicht bewenden. Die Geschichte der Sozialdemokratie ist nicht nur eine Erfolgsgeschichte, sondern, was mindestens so wichtig ist, sie hat noch eine Aufgabe in der Zukunft. Woran man sieht, dass das Narrativ ein zeitliches symbolisches Format ist, das aus der Perspektive der gegenwärtigen Erzählzeit von der Vergangenheit in die Zukunft weist.

Damit wird politisch auch der Einwand gebannt, dass es nichts mehr zu tun gibt, weil ja alles bereits getan und erledigt ist. Hinter dem Vorwahl-Slogan lugt, bescheiden, aber bestimmt, eine ziemlich große Erzählung hervor, die für die Sozialdemokratie, ein Kind der Aufklärung, höchst bedeutsam ist: jene vom Fortschritt, die durch einen Protagonisten, das kollektive Subjekt, die demokratische Linke, vollzogen wurde und vollzogen wird. Mit diesem gewichtigen Narrativ appelliert der Slogan an jene Gemeinschaft, die durch dieses geschaffen wurde.

Man muss es wiederholen, damit alle wissen, wer sie bzw. wir sind, Vorkämpfer für den sozialen Fortschritt. Das Narrative hat eine performative Kraft. In ihm steckt ein kommunikatives Anliegen, das an ein Du gerichtet ist. Erzählen heißt immer auch, jemandem etwas zu erzählen.

Zwei trickreiche Eigenschaften

Es gibt zwei trickreiche Eigenschaften, die mit dem Narrativ verbunden sind: Zum einen ist das Narrative Gegenstand der Analyse, zugleich aber ist die Narratologie auch eine Methode, kulturelle Prozesse zu erfassen, die um so gewichtige Fragen wie Identität, Erinnerung, Wertsetzung und Sinngebung kreisen. Mittlerweile hat die Erzählung, lange Zeit der exklusive Gegenstand der Literaturtheorie, disziplinäre Grenzen überschritten.

Narrative findet sich nahezu überall, auf der Couch des Psychoanalytikers, in den Denkfabriken der Politikberatung, im Bereich der Kulturanalyse, in der Oral History und überhaupt im Lebensalltag. Das Erzählen ist das Alleralltäglichste von der Welt und zugleich von höchster Raffinesse.

Zum anderen sind Erzählungen höchst simpel und zugleich unerhört komplex und multifunktional. Das kleine dreijährige Kind, das vom ersten Tag im Kindergarten berichtet, ist ebenso ein Erzähler wie die anonyme Erzählstimme bei James Joyce oder Péter Nádas.

Die einfachsten und eingängigsten Erzählungen funktionieren gemäß der einfachen Formel "Es war einmal ..." im Rhythmus des linearen Nacheinander. Aber es lassen sich gerade im literarischen Erzählen, das lebensalltäglich unwahrscheinlich ist, auch ganz andere Formen des Erzählens finden, indem der suggestive Gleichschritt von erzählter Handlung und erzählerischem Vortrag vollkommen aufgelöst wird.

Ein Blick auf das Narrative macht deutlich, dass es mit den Fakten nicht ganz so einfach ist. Was wir faktische Ereignisse nennen, die sich doch zweifelsfrei von Fälschungen unterscheiden müssen, liegt nicht wie Obst auf einer Schale, sodass man nur zulangen muss; vielmehr sind diese eben durch jene Narrative vermittelt, die verschiedene Ereignisse mit einer raffinierten Koppelung von Zeit und Kausalität miteinander zu einer größeren Einheit verbinden, den Sturz des Zaren etwa mit der Oktoberrevolution.

Akt der Interpretation

Die jeweilige Anordnung der verschiedenen Ereignisse oder das Hintanstellen oder Weglassen angeblich weniger wichtiger Begebenheiten ändert die erzählte Geschichte erheblich. Kurzum, die harmlosen Geschichten, die wir uns alltäglich auf den verschiedensten Ebenen erzählen, sind symbolische Konstruktionen, die Bedeutung und, wie der deutsche Philosoph Hans Blumenberg meinte, Bedeutsamkeit erzeugen.

Die Geschichte der Französischen Revolution ist von den politischen und weltanschaulichen Lagern im Frankreich der vergangenen 220 Jahre überaus konträr erzählt worden. Ob wir die Ermordung der jüdischen Bevölkerungen in Europa als eine Opfergeschichte (Holocaust) oder als eine Geschichte gewalttätigen Verschwindens (Shoah) erzählen, macht einen erheblichen Unterschied.

Ob wir Österreich überwiegend als Erfolgsgeschichte eines Jahrhunderts erzählen oder ob wir die mehrhundertjährige Geschichte jenes Imperiums in die Geschichte einer Entität, die wir mit großer Selbstverständlichkeit "Österreich" nennen, einbeziehen, erzeugt unterschiedliche Vorstellungen, Traditionslinien und Wertungen.

Den Zyniker vom Leichtgläubigen unterscheiden

Das Narrativ enthält seine eigene Interpretation; jede Narration ist ein performativer Akt der Interpretation. Die Welt spricht nicht, hat der amerikanische Philosoph Richard Rorty einmal geschrieben; das gilt auch für die "Fakten".

Mit diesem Befund ist nicht automatisch jenem Faktenschwindel Tor und Tür geöffnet. Jeder von uns, Journalistin, Filmregisseur, Bloggerin oder Politiker, ist für die Erzählung, die er vorträgt und wie er sie vorträgt, verantwortlich. Niemand kann sich auf die Fakten ausreden.

Beim Schwindel ist der Zyniker vom Leichtgläubigen zu unterscheiden. Ohne den Letzteren funktioniert er indes nicht. Verschwörungsnarrative sind attraktiv, weil sie resistenzerzeugend sind. Wenn man mit jemandem diskutiert, der davon überzeugt ist, dass die Protokolle der Weisen von Zion echt sind, oder der bezweifelt, dass die sechs Millionen Juden in den Gaskammern der Nationalsozialisten wirklich ermordet wurden, dann wird dieser entgegnen, dass er narrativem Wahrheitsbeweis keinen Glauben schenkt, weil dieser Teil der Verschwörung ist, von der er felsenfest überzeugt ist.

Bei Narrativen handelt es sich weniger um einzelne gelungene oder misslungene Erzählungen, sondern vielmehr um Erzählkomplexe, -muster und Genres. Das Verschwörungsnarrativ, das alles einem bösen Schadensstifter zuschreibt und damit restlos die Weltgeschichte erklärt, ist eines, die Apokalypse, die Dekadenz, das Geheimnis, der Kriminalfall, die Katastrophe, der Fortschritt und die Menschheitswerdung, die Evolution, der Ursprung, das Opfer oder der Held sind weitere narrative Kernmotive, die in Myriaden von Versionen und Variationen existieren. Die Reihe ließe sich fast beliebig fortsetzen. Narrative bleiben aktuell, weil sie immer wieder aufgerufen und wiederholt werden.

Das Narrative, das mit unseren Kindergeschichten beginnt, ist ein unerhört funktionstüchtiges Besteck unserer Kultur. Es ist das vielleicht mächtigste Instrument für die Herstellung von Identität, Wertsetzung und Sinnstiftung.

Dies setzt voraus, dass wir es für wahr halten. Zugleich haben Narrative einen prekären epistemologischen Status. In gewisser Weise sind sie nämlich alle falsch. Sie verändern das, wovon sie berichten, schlicht dadurch, dass sie ihm eine Bedeutung unterlegen, die damals ganz unbekannt war.

Der narrative Wandel

Sie sind instabil, weil der Horizont der Gegenwart individuell und kollektiv immer weiter wandert. Wir können nicht wissen, wie wir 150 Jahre Republik Österreich narrativ ausleuchten und deuten werden und welche Plakate die Sozialdemokratie dann affichieren wird. Die Ereignisse wandern mit ihren jeweiligen narrativen Deutungen mit. Unsere Erinnerungen sind nicht fragil, sondern unterliegen narrativem Wandel.

Keine guten Botschaften für Menschen, die festen Boden unter den Füßen haben möchten. Erzähl mir keine Gschichten, sagt der gelernte Österreicher. Wir erzählen einander Tag für Tag Geschichten, weil wir von Sinnstiftungen so abhängig sind wie von Luft und Wasser. Wir vertrauen ihnen, obwohl ihr Wahrheitswert streng betrachtet stets zur Disposition steht.(Wolfgang Müller-Funk, 6.4.2019)