Eine Kernfamilie macht sich schuldig: Im Vestibül der Burg treffen Irina Sulaver und Christoph Radakovits auf der winzigen Rundbühne von Frank Albert aufeinander.

Foto: Burgtheater / Reinhard Werner

Hat er, oder hat er nicht? So wirklich sicher sind sich Danny und Helen nicht. Schließlich ist Liam Helens Bruder. Und Brüder verüben keine Verbrechen. Oder vielleicht doch?

In Dennis Kellys Erfolgsstück Waisen klärt sich die Anfangsfrage schneller, als dem jungen Londoner Liebespaar recht sein kann. So unschuldig wie Liam tut, als er in den romantischen Abend seiner Schwester und deren Ehemann platzt, ist er nicht. Sein Gesicht ist verzerrt, sein Sweater blutbefleckt. Und doch scheint er eine reine Weste zu haben.

Vor rund zehn Jahren wurde Waisen uraufgeführt, und seitdem macht der Bühnenthriller des englischen Dramatikers Dennis Kelly auf internationalen Bühnen die Runde. Das hat zum einen mit der schnellen, klassischen Form des Stücks (vier Szenen, ein Raum) und der Reduktion auf drei Personen zu tun. Selbst auf kleineren Bühnen wie der winzigen, schwer bespielbaren Nebenspielstätte Vestibül des Burgtheaters ist das Stück gut aufgehoben. Zum anderen hat es mit den Themen zu tun, die verhandelt werden. Die Frage nach der persönlichen Schuld verzahnt sich mit der Frage, wie weit Solidarität im familiären Kontext gehen muss – und ab welchem Punkt man sich selbst schuldig macht.

Als klar wird, dass die Version Liams davon, was draußen im dunklen Park genau passiert ist, nicht haltbar ist, verschiebt sich der Fokus immer weiter auf Danny und Helen – auf das Mittelstandsehepaar mit eigenem Haus und Kind. Im Unterschied zum vorbestraften Bruder leben sie ein Bilderbuchleben. Das Hemd steckt perfekt in den schlechtsitzenden Jeans, das zweite Kind ist unterwegs.

Spießiges Jungpaar

Irina Sulaver und Christoph Radakovits sind an der Wiener Burg dieses Jungpaar: sie eine betuliche Mutter mit Rehblick und im aufreizenden Kostüm, er ein Softie, der viel Verständnis für seine zwischen Naivität und Kalkül wechselnde Partnerin zeigt. Um ihren Traum vom guten Leben nicht zu gefährden, machen sie sich mit dem Bruder gemein. Dessen Opfer ist nämlich "ein Ausländer". Womit wir beim dritten Grund sind, warum Waisen so gern auf Bühnen gehievt wird.

Das Stück erzählt nämlich (recht vordergründig) vom Einbruch fremdenfeindlicher Gedanken in die Welt der bürgerlichen Mitte. Um dem eigenen sozialen Abstieg zu entgehen, beseitigt man lieber den Eindringling in die vermeintlich heile Welt.

Zu Stroboskoplicht rückt Danny aus, um das Opfer loszuwerden. Es ist dies einer der wenigen Effekte, die sich die junge Regisseurin Christina Gegenbauer neben einiger Videoeinspielungen leistet. Sie konzentriert sich ganz auf die Schauspieler, formt Charaktere aus Typen, macht Tempo, wenn es das "well made play" erfordert, oder bremst die Schauspieler ein.

Diese machen ihre Sache richtig gut. Dritter im Bunde ist Valentin Postlmayr als Bruder Liam, ein Loser, der mal Baby, mal Monster ist. Er wird am Ende in die Wüste geschickt. Übrig bleibt die schuldig gewordene Kernfamilie. Auch kein tröstlicher Gedanke. (Stephan Hilpold, 6.4.2019)