2017 stattete der frischgewählte französische Präsident Emmanuel Macron Algerien einen Besuch ab. Die Herzen der Algerier flogen ihm zu.

Foto: APA/AFP/LUDOVIC MARIN

Der greise Staatspräsident Abdelaziz Bouteflika ist nach wochenlangen Massenprotesten am Dienstag zurückgetreten. Joëlle Stolz war in den 1980ern Korrespondentin in Algier. Im Gastkommentar schreibt sie über die Hassliebe zwischen Frankreich und Algerien.

Gab es einen Macron-Effekt? In diesem Aufbruch im Namen der Würde, als Millionen Algerier den Abgang Präsident Bouteflikas erzwungen haben, mag das so sein. Die Franzosen haben ein junges und redegewandtes Staatsoberhaupt, umso unerträglicher war es, von einer stummen Mumie vertreten zu sein. Frankreich seinerseits bewundert die algerische Revolution des Lächelns. "Ihre Freitage sehen besser aus als unsere Samstage", meint eine hohe Quelle im Elysée-Palast, die die friedlichen Großdemos in Algerien mit den Ausschreitungen der Gelbwesten vergleicht. Paris hat mit etwas Verspätung den Wandel in Algerien begrüßt (Washington und Moskau waren viel schneller). Denn nichts ist einfach mit unserer Ex-Kolonie.

Seit gut 50 Jahren sind beide Länder in einer Art Hassliebe eng verbunden. Frankreich wäre sofort betroffen, würde die Lage jenseits des Mittelmeers außer Kontrolle geraten und verzweifelte Algerier bei uns Zuflucht suchen. Auch wenn dies immer unwahrscheinlicher wird, hat sich das französische Militär auf das schlimmste Szenario vorbereitet. Algerien ist "seine größte Sorge", hat unlängst Macron zugegeben: Frankreich ist das einzige westliche Land mit einer millionenstarken algerischen Diaspora.

Drei Diasporas

In Wirklichkeit gibt es drei Diasporas: diejenige, die heute euphorisch die algerische Fahne hisst (seit kurzem sieht man auf der Pariser Place de la République auch Berber-Symbole der Autonomie oder sogar der Unabhängigkeit); die Harkis, die damaligen Hilftruppen der französischen Armee: Tausende sind nach Frankreich geflüchtet, um 1962 den algerischen Repressalien zu entkommen; schließlich die "Pieds Noirs", die französischen Siedler und die Juden aus Algerien, die mit ihren Nachfahren eine begehrte Wählerschaft für die konservative Rechte und für Marine Le Pen bilden. Und noch die vielen Franzosen, die Solidarität mit Algerien als historisches Gut der Linken betrachten.

Dieses komplexe Bild erklärt, warum bilaterale Beziehungen eine hohe Kunst der Diplomatie erfordern. Kein Zufall, dass – wie übrigens sein Vorgänger – der Chef des auswärtigen Sicherheitsdienstes (DGSE) früher Botschafter in Algier war.

Grausamkeiten der Kolonisation

In diesem Psychodrama wiegt die Vergangenheit schwer. "Hier bin ich die Gestapo", scherzte in Algier ein französischer Diplomat vor einem verblüfften Tory-Abgeordneten. Die Grausamkeiten der Kolonisation, die ab 1830 ein Drittel der autochthonen Bevölkerung vernichtet haben, sind breit dokumentiert. Wie auch die des Unabhängigkeitskriegs (1954-1962), als das französische Militär getötet, vergewaltigt und gefoltert hat. Doch als wir 1985 in "Libération" die Aussagen von algerischen FLN-Kämpfern veröffentlicht haben, die behaupteten, sie seien während des Krieges "von Le Pen gefoltert" worden (der Gründer des Front National war Leutnant in Algerien), wirkten die Behörden in Algier etwas verlegen. Sie haben uns daran nicht gehindert, aber sicher nicht dazu ermutigt.

Als würde das Aufdecken einer dunklen französischen Vergangenheit unbequeme Fragen nach sich ziehen. Nach dem Bruderkrieg der algerischen Nationalen Befreiungsfront FLN gegen andere nationalistische Bewegungen. Oder nach der brutalen Abrechnung mit jenen, die nach 1962 die algerische Macht infrage gestellt haben. Das "koloniale Trauma" (so der Titel eines Essays der Psychoanalytikerin Karima Lazali) beeinträchtigt nach wie vor die Erinnerung – auf beiden Seiten.

Schwarzes Jahrzehnt

Das offizielle Algerien hat es sehr geschickt instrumentalisiert. Im "schwarzen Jahrzehnt" (1992-1999) – "Bürgerkrieg" nennen es einige Kritiker, also einen "Krieg gegen die eigenen Bürger" – hat Algier seinen Kampf mit den islamistischen Netzwerken als blutige Variante der Konfrontation "Laizismus versus Religiöse" präsentiert. Eine Konfrontation, die bei uns immer die Gemüter erhitzt, man denke nur an die Debatte über das Kopftuch.

In all diesen Jahren hat Paris die algerische Fassung zähneknirschend geschluckt. "Jeder weiß, dass das Wort Frankreichs über Algerien nicht frei ist", hat der sozialistische Premier Lionel Jospin einmal öffentlich gesagt. Aber meistens waren weder Einmischung noch Gleichgültigkeit die offizielle Linie. Als 1996 sieben französischen Mönche des Klosters Tibhirine grausam umgebracht wurden, hat Paris keinen Eifer gezeigt, die dubiösen Umstände ihrer Tötung ans Licht zu bringen – Ursache war anscheinend ein Irrtum der algerischen Armee, die islamistische Gruppierungen manipulierte.

Vorkämpferstaat gegen den Jihad

Nach den Attentaten vom 11. September 2001 konnte sich Algerien als Vorkämpferstaat des Krieges gegen den Jihad stilisieren. Heute ist Paris weniger um seine Erdgasimporte besorgt (zehn Prozent kommen aus Algerien) als darüber, dass Algier die G5-Mission torpedieren könnte: die militärische "Opération Barkhane" im Sahel, die die Franzosen mit Unterstützung von Mauretanien, Tschad, Mali, Niger und Burkina Faso eher erfolglos durchführen.

Die Algerier machen bei der Operation nicht mit, sie gestatten nur den Überflug von französischen Kampfjets. Sind sie aber wirklich neutral?

Der politische Übergang, der nun friedlich in Algerien begonnen hat, interessiert also die meisten internationalen Mächte. Und selbstverständlich auch die Franzosen. (Joelle Stolz, 5.4.2019)