Am 13. April 1999 ging das erste Posting im STANDARD-Forum online. Aus diesem Anlass haben wir drei Poster gebeten, Gastkommentare zu schreiben. Den Anfang macht Christoph Landerer mit einem Plädoyer für den offenen Diskurs. Es folgen: Walter Gröbchen und Alfred J. Noll.

Politische Diskussionen sind in Österreich ein schwieriges Feld. Sie werden von Parteien und Parteiinteressen dominiert, die die Lagermentalität der Zwischenkriegszeit bruchlos ins 21. Jahrhundert gerettet haben. In großen Koalitionen und informellen Nebenregierungen wurden die dichotomen Strukturen befestigt, das Land jahrzehntelang in "Reichshälften" aufgeteilt. Der Wähler und Staatsbürger hatte sich auf eine Seite zu schlagen.

Die Immobilität der offiziellen Politik spiegelt sich im Zugang zu politischen Fragen wider. Bis heute gilt es in Österreich als selbstverständlich, nicht das jeweilige Sachproblem zu diskutieren, sondern die vermutete Gruppenzugehörigkeit von Meinungen über eine Angelegenheit, von der man häufig nicht allzu viel versteht und mit deren – oft lästigen – Details man sich auch nicht weiter auseinandersetzen möchte.

Illustration: felix grütsch
Illustration: felix grütsch

Intellektuelles Lagerdenken

Wer sich die Freiheit nimmt, politische Auffassungen "issue dependent" zu gestalten – mal so, mal so –, setzt sich politischen Verdächtigungen von beiden Seiten aus. Im Zweifel enden diskursive Bemühungen dann schnell bei der Frage, warum um alles in der Welt man den jeweils anderen denn "verteidigen" möchte. Dass diese Mentalität die Diskussion beschädigt, fällt nicht weiter auf, das Lagerdenken gilt als intellektueller Normalzustand. Noch immer versteht man in Österreich unter einem "Streitgespräch", wie Konrad Paul Liessmann vor fast zwanzig Jahren festgestellt hat, bevorzugt "den sich selbst bestätigenden Gedankenaustausch unter Gesinnungsfreunden".

In dieser Situation haben die kommunikativen Möglichkeiten, die die neuen Medien bieten, eine wichtige Funktion – oder können sie jedenfalls haben. Doch das Internet ist ein zweischneidiges Schwert. Sein egalitärer Charakter ermöglicht einen breiten Austausch von Meinungen und damit auch einen im besten Sinne demokratischen Diskurs, aber die neuen sozialen Medien können auch zum Vehikel einer verschärften Polarisierung werden. Wo Chaträume zu Echokammern werden und Follower sich zu einer uniformen Meinungsherde zusammenrotten, werden Debatten nicht bereichert, sondern verarmt.

Stimulierende Moderation

Einen Ausweg aus dem Dilemma bieten offen angelegte und moderierte Formate, wie sie DER STANDARD bietet. Die zurückhaltende, aber auch ausreichend dichte Moderation verhindert Exzesse, die eine Klarnamenpflicht nötig machen würden, und sorgt so auch für ein niedrigschwelliges Angebot, das den demokratischen Anspruch eines Forums einlösen kann. Ich schätze auch die stimulierenden Eingriffe der Moderatoren, die mit Verständnisfragen, dem Wunsch nach Belegen und eigenen sachlichen Beiträgen dort Tempo aus der Debatte nehmen, wo diese unkontrollierbar zu entgleiten droht. Dass dies freilich dennoch gelegentlich geschieht, ist der Preis einer liberalen Meinungspraxis.

Freier Austausch von Meinungen

In einer immer komplexeren, unüberschaubareren Welt ist der freie Austausch von Meinungen die Essenz der Demokratie. Foren werden in dem Maß eine wichtige Rolle spielen, in dem Tageszeitungen sich interaktiv öffnen. Beiträge der User können jene der Redakteure und Kommentatoren sinnvoll ergänzen, und sie ermöglichen eine alternative Meinungsbildung, auch gegen eine (tatsächliche oder empfundene) Blattlinie. Wir müssen diesen Austausch fördern, um den regulären politischen Diskurs zu gestalten.

Aber wir müssen uns auch darum bemühen, Themen, die heute die Ränder besetzen, in die politische Mitte zu reintegrieren. Wenn eine für den Großteil der Wähler wichtige, aber zugleich schwierige und schwammige Thematik wie kulturelle Identität in eine rechtsextreme Subkultur abgleitet, müssen wir diese Debatte sachlich auf eine Weise anreichern, die es erlaubt, sie wieder in den politischen Mainstream zurückzuführen. Es ist nicht zuletzt auch die diskursive Sprachlosigkeit, die diese Fehlentwicklung vorbereitet hat. Sie zu korrigieren ist keine Aufgabe einer politischen oder medialen Elite, sondern geht uns alle an. Gelingen kann sie nur im offenen Diskurs. (Christoph Landerer, 5.4.2019)