Deutschland muss ein glaubwürdiger und williger Nato-Partner, fordert Sigmar Gabriel. Im Gastkommentar schlägt der ehemalige Außenminister vor, 1,5 Prozent in die eigenen Streitkräfte zu investieren und 0,5 Prozent den osteuropäischen Nato-Mitgliedern für Verteidigungsausgaben zur Verfügung zu stellen.

Der Gastkommentator bei der Amtsübergabe an seinen Nachfolger als Außenminister Heiko Maas.
Foto: APA/AFP/JOHN MACDOUGALL

Die Nato wurde vor 70 Jahren gegründet, um einen Krieg zwischen dem freiheitlich-demokratischen Westen und dem sowjetischen Osten zu verhindern. Die Tatsache, dass sich der Kalte Krieg nie zu einem heißen auswuchs, ist ein Beleg ihres Erfolges. Zudem wurde jeder Truppeneinsatz der Nato vom UN-Sicherheitsrat oder der Organisation für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (OSZE) autorisiert. Die viel kritisierte Ausnahme war die Nato-Intervention im Kosovokrieg, doch in diesem Fall beendete sie bereits laufende ethnische Säuberungen.

Primärer Zweck der Nato ist die gemeinsame Verteidigung. Artikel 5 des Nordatlantikvertrags – der besagt, dass ein Angriff auf ein Nato-Mitglied ein Angriff auf alle ist – ist heute so nötig wie eh und je. Er ist der Grund, warum West-Berlin während des Kalten Krieges frei blieb und warum Polen, Esten, Litauer und Letten sich heute ihrer Freiheiten sicher sein können. Wer die Osterweiterung der Nato für Russlands Übergriffe in der Ukraine verantwortlich macht, bestreitet damit stillschweigend, dass ehemalige Mitgliedsländer des Ostblocks das gleiche Recht auf Freiheit und Sicherheit haben wie andere Nato-Mitglieder.

Konsens und Spannungen

Historisch beruhte die Stärke der Nato auf ihrer Fähigkeit, trotz unterschiedlicher Ausgangspositionen der Partner einen Konsens zu erzielen. Die Organisation hat ihre Begabung, sich an sich wandelnde globale Kontexte anzupassen und neue Herausforderungen erfolgreich zu bewältigen, bewiesen. Die Einheit, die sie politisch derart stark gemacht hat, war keine Vorbedingung, sondern wurde in zahllosen, häufig schwierigen Verhandlungen zwischen den Mitgliedstaaten erkämpft.

Die Zusammenarbeit zwischen Nationalstaaten beinhaltet häufig Spannungen über finanzielle Beiträge für gemeinsame Güter, und die Beziehungen im Rahmen der Nato bilden keine Ausnahme. Die USA haben im Bündnis immer den größten Teil der Verteidigungsausgaben getragen; daher verlangen sie nicht ohne Grund immer mal wieder, dass ihre europäischen Partner mehr beitragen. Und Europas Volkswirtschaften sind heute viel stärker als 1949.

Strittige Lastenteilung

Der große US-Anteil an der europäischen Verteidigungslast datiert aus jener Zeit. Die USA fordern also teilweise zu Recht von den europäischen Mitgliedern jetzt einen größeren finanziellen Beitrag zur gemeinsamen Verteidigung. Als die Nato gegründet wurde, trafen die USA die strategische Entscheidung, dass Europa, und insbesondere Deutschland, nicht in der Lage sein dürfe, sich selbst zu verteidigen.

Natürlich trug Deutschland als eines der Frontländer während des Kalten Krieges eine erhebliche Last. Auf deutschen Boden waren – im Westen wie im Osten – Millionen von Soldaten und tausende von Panzern und Raketen stationiert, alle in Reih und Glied aufgereiht und gefechtsbereit. Die meisten dieser Soldaten auf beiden Seiten des Eisernen Vorhangs waren Deutsche. Doch leistete Deutschland darüber hinaus bedeutende politische Beiträge. In den 1970er Jahren legte die Ostpolitik von Bundeskanzler Willy Brandt die Grundlage für ein europäisches Sicherheitssystem, das dazu beitrug, den Frieden bis zur deutschen Wiedervereinigung aufrechtzuerhalten.

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Angespannte Miene: Bundeskanzlerin Angela Merkel und US-Präsident Donald Trump 2018 im Nato-Hauptquartier in Brüssel.
Foto: ap/Pablo Martinez Monsivais

Auf Distanz

Trotzdem hat US-Präsident Donald Trump zutiefst antagonistische Haltung gegenüber Amerikas Nato-Verbündeten einige dazu veranlasst, eine stärkere Distanz zwischen Europa und den USA zu fordern. Sie sollten mit ihren Wünschen vorsichtig sein. Die Europäer weisen angesichts eines entschlossenen Feindes keine besonders vielversprechende Erfolgsbilanz auf.

Obwohl Trump mit Strafzöllen droht und verlangt, dass die europäischen Länder ihre Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent vom BIP erhöhen, hat er seinen Worten bisher keine Taten folgen lassen. Deutschland ist in dieser Hinsicht nicht viel anders. Auch wenn es sich selbst als verantwortungsvollen Erwachsenen darstellt, hat es – trotz realer Erhöhungen seiner Verteidigungsausgaben seit 2013 – sehr wenig getan, um die Einsatzbereitschaft der Truppe zu verbessern. Tatsächlich spiegelt das Versagen Deutschlands, seine Versprechungen in die Tat umzusetzen, den völligen Mangel an Klarheit des Landes in Verteidigungsfragen wider.

Deutsche Macht

Deutschland ist zugleich Gegenstand wachsender Kritik innerhalb der Nato selbst. Viele betrachten die Größe und den politischen, finanziellen und wirtschaftlichen Einfluss des Landes als problematisch. In der britischen Brexit-Debatte beispielsweise sucht das "Leave"-Lager aus einem von Deutschland dominierten Europa zu entkommen, während die "Remainer" argumentieren, dass Großbritanniens Präsenz innerhalb der EU erforderlich sei, um die deutsche Macht unter Kontrolle zu halten.

Tatsächlich sind weder das Vereinigte Königreich noch Frankreich in der Lage, Deutschland unter Druck zu setzen, wenn es darum geht, einen Kurs für Europa abzustecken. Das einzige Land, das diesbezüglich über die politische und wirtschaftliche Durchsetzungskraft verfügt, sind die USA. Das Risiko ist daher, dass Trumps antideutsche Rhetorik Deutschland überzeugt, dass es sich vom transatlantischen Bündnis distanzieren und völlig auf Europa setzen sollte.

70-Jahre-Nato-Feierlichkeiten am Mittwoch in Washington.
Foto: APA/AFP/MANDEL NGAN

Spaltung Europas

Statt dass Europa geeint bliebe, wenn es – wie von einigen vorgeschlagen – eine Politik der "Äquidistanz" zwischen den USA, Russland und China verfolgen würde, würde diese Europa vermutlich nur weiter spalten, was die Sicherheit der Europäer wie auch der Deutschen selbst verringern würde. Die osteuropäischen Länder in Nato und EU werden ihre Verteidigung nicht den Europäern allein anvertrauen, und insbesondere nicht Deutschland, das sich in der Vergangenheit zu oft als unzuverlässiger Partner erwiesen hat.

Genauso ist die Vorstellung von der "strategischen Autonomie", wie sie derzeit in Deutschland und Frankreich en vogue ist, ein Rezept zur Spaltung Europas, weil sie impliziert, dass es Fragen gibt, in denen die EU sich von den USA abwenden könnten. Was nötig ist, ist eine größere strategische Souveränität Europas, und die umfasst viel mehr als das Militär allein.

Politische Trennlinie

Jedoch ist der einzige Weg, wie Europa echte strategische Souveränität erreichen kann, die Beilegung der Spannungen über die Lastenteilung innerhalb der Nato. Deutschland könnte hier eine wichtige Rolle spielen. Statt seine Verteidigungsausgaben auf zwei Prozent vom BIP zu erhöhen, was womöglich einige seiner Nachbarn in Sorge versetzen würde, könnte es 1,5 Prozent in seine eigenen Streitkräfte investieren und die verbleibenden 0,5 Prozent den osteuropäischen Nato-Mitgliedern für Verteidigungsausgaben zur Verfügung stellen. Auf diese Weise würde Deutschland seinen Worten endlich Taten folgen lassen und eine führende Rolle als Garant osteuropäischer Sicherheit übernehmen.

Drei Jahrzehnte nach dem Kalten Krieg verläuft keine militärische Trennlinie mehr durch Deutschland. Doch es gibt eine politische Trennlinie zwischen dem, was von Deutschland militärisch verlangt wird und was für die deutsche Gesellschaft akzeptabel ist. Auf die eine oder andere Art muss auch diese Linie ausradiert werden. Deutschland hat eine Chance und eine Verantwortung, sich zugleich um sich selbst zu kümmern und als der verantwortungsvolle Erwachsene in der Nato zu agieren.

Ein Relikt des Kalten Krieges: Teile der Berliner Mauer im Brüsseler Nato-Hauptquartier.
Foto: APA/AFP/POOL/CHRISTOPHE LICOPPE

Letztlich ist ein Bündnis immer nur so stark wie das Bekenntnis der Mitglieder zu ihm. Es ist Zeit, dass Deutschland seinen Nato-Verbündeten zeigt, dass es ein glaubwürdiger und williger Partner ist und dass seine Außen- und Sicherheitspolitik nicht mehr länger nur durch innenpolitische Anliegen bestimmt wird. (Sigmar Gabriel, Übersetzung: Jan Doolan, Copyright: Project Syndicate, 7.4.2019)