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Innerhalb und außerhalb des britischen Parlaments ist die Frustration über die Brexit-Unsicherheit groß – und wirkt sich auch auf die Psyche aus.

Foto: Reuters / Hannah Mckay

Wie gut, dass der neugotische Palast von Westminster so verwinkelt ist. Das bietet erschöpften Abgeordneten wie Andrew Percy Schlupflöcher zum Ausruhen. Er habe da, vertraute der Abgeordnete aus dem nordenglischen Städtchen Brigg jetzt Londoner Medien an, ganz in der Nähe des Plenarsaals eine unbenutzte Abstellkammer gefunden. "Ich mache die Tür hinter mir zu, mache das Licht aus und hänge mir das Jackett über den Kopf." 20 Minuten Abschalten, das reiche schon, um die nächste Runde im Brexit-Abstimmungsmarathon auszuhalten.

Großbritannien macht dieser Tage manchmal den Eindruck einer Nation am Rande des Nervenzusammenbruchs. Dass seit Monaten der Streit über den besten Weg zum EU-Austritt die politische Debatte dominiert, ja monopolisiert, wirkt sich auf das psychische Gleichgewicht vieler Briten negativ aus. "Wir sind ganz überwiegend ein Land von Pessimisten geworden", glaubt Rosie Carter von der Lobbygruppe Hope not Hate nach der Auswertung zahlreicher Umfragen.

Zum Teil gute Stimmung 2016

Dabei hatte der knappe Brexit-Entscheid vom Juni 2016 (52:48 Prozent) zunächst für gute Stimmung gesorgt. Bewohner von Städten wie Brigg oder Boston, wo bis zu 70 Prozent den Austritt befürwortet haben, hatten sich vor 2016 als Pessimisten zu erkennen gegeben, stuften sich anschließend aber als Optimisten ein. Das umgekehrte Phänomen beobachteten Meinungsforscher in überwiegend EU-freundlichen Großstädten. Längst ist die Fröhlichkeit der Brexit-Befürworter verflogen; bei den Gegnern des Austritts hält der tief sitzende Unmut an.

Zumal wichtige Positionen in der Debatte nicht vorkommen, argumentiert "Guardian"-Autorin Zoe Williams: "Wenn Sie Personenfreizügigkeit gut finden und staatliche Souveränität für überschätzt halten, stehen sie nicht nur außerhalb der Großparteien und der politischen Debatte. Sie sind praktisch ein Staatenloser in Brexitland."

Viele Berufsgruppen beklagen den lähmenden Effekt der Brexit-Unsicherheit auf ihre Branche und damit indirekt auch auf ihre Jobzufriedenheit. Im nationalen Gesundheitssystem NHS hat die Abwanderung von EU-Ausländern bestehende Personallücken vergrößert. Der Immobilienmarkt ist vielerorts zum Erliegen gekommen. Unternehmer ärgern sich über die Mehrkosten durch höhere Lagerhaltung, schrecken vor wichtigen Investitionen zurück.

Keine Fortschritte

Indes scheinen die Gespräche zwischen dem Team von Premierministerin Theresa May und den Abgesandten von Labour-Chef Jeremy Corbyn im Morast zu stecken. Labours Brexit-Sprecher Keir Starmer beklagte am Freitag die kompromisslose Haltung der Downing Street. Allerdings tobt auch in der Opposition der Richtungsstreit: 80 Abgeordnete drängen Corbyn dazu, ein zweites Referendum anzustreben.

Ein möglicher Kompromiss dreht sich um die Verankerung einer Zollunion im Austrittsvertrag, der eigentlich für Brüssel und London als nicht verhandelbar gilt. Aus Labours Sicht reicht eine Absichtserklärung in der politischen Erklärung nicht aus: Die Opposition fürchtet die Hinwendung der Tories zu einem härteren Brexit, sobald May im Sommer ihr Amt verlassen haben wird.

Den Abgeordneten stehen auch in dieser Sitzungswoche wieder heftige Debatten bevor. Übers Wochenende appellierten rund 50 gemäßigte Tory-Abgeordnete, man möge die überhitzte Rhetorik zurückschrauben. Vor allem sei es wichtig, "Anspielungen auf den Zweiten Weltkrieg und das Gerede von 'Verrat und Verrätern' zu unterlassen", forderte Nicky Morgan, Vorsitzende des Finanzausschusses.

Nazi-Vergleiche und Jesus-Zitate

Der Brexit-Ultra Mark Francois hat seine harte Haltung gegenüber jedem Kompromiss mit der EU nicht nur mehrfach mit dem Krieg gegen Nazi-Deutschland verglichen. Nach einer knapp verlorenen Abstimmung zitierte er auch Jesu Worte am Kreuz: "Vater, vergib ihnen, denn sie wissen nicht, was sie tun." Als Christ habe er das gerade in der Passionszeit "zutiefst anstößig" gefunden, sagte Labour-Veteran Barry Sheerman.

Schlafstörungen, verändertes Essverhalten, Tränen im Plenarsaal – viele seiner Kollegen, lautet die Beobachtung des Arztes und Tory-Abgeordneten Phillip Lee in der "Financial Times", würden "erkennbar mit sich ringen". Andrew Percy spricht nach eigener Einschätzung deutlich häufiger dem Alkohol zu. Fraktionskollege Huw Merriman habe zehn Zentimeter Bauchumfang verloren, berichtete der Parlamentarier der BBC und machte vor allem Beleidigungen durch Bürger dafür verantwortlich.

Deutlich mehr müssen viele weibliche Abgeordnete ertragen. Einen Mordanschlag auf Rosemary Cooper vereitelte die Kriminalpolizei, Morddrohungen sind für exponierte Frauen wie Jess Phillips von Labour an der Tagesordnung. Kürzlich habe sie erstmals morgens "gar nicht aufstehen wollen", beklagte sie.

Dass diese Gruppe gestresster Menschen ruhige, wohlinformierte Entscheidungen treffen könne, glaubt Doktor Lee, "das ist natürlich Unsinn". (Sebastian Borger aus London, 7.4.2019)