Der Europawahlkampf ist überall angelaufen, und die größte gemeinsame Sorge scheint laut den meisten Umfragen die Migration zu sein. Eine Befragung von 46.000 Menschen in 14 EU-Ländern durch die Denkfabrik European Council on Foreign Relations bestätigte, dass die Angst vor Migranten in Deutschland, Dänemark, Österreich und Schweden das wichtigste Thema ist.

Dass aber der Wunsch, die Grenzen für legale wie illegale Migranten zu schließen, in den postkommunistischen Ländern am größten ist, spiegelt die Angst vor einer Invasion von Migranten, die es überhaupt nicht gibt. Die Sympathie für Grenzschließung ist nicht nur die Folge nationalistischer Rhetorik und populistischer Stimmungsmache.

Es wird nämlich oft übersehen, dass für die meisten mittel- und osteuropäischen Länder die Abwanderung aus der eigenen Heimat viel wichtiger ist als die Zuwanderung. Ein Fünftel der erwerbsfähigen Bevölkerung Rumäniens arbeitet zum Beispiel im Ausland, und drei Viertel waren jünger als 35 Jahre, als sie das Land verließen. Seit 1989 verlor Lettland 27 Prozent seiner Bevölkerung, Litauen 22,5 und Bulgarien 23 Prozent.

Rund 600.000 Ungarn, dreimal so viele wie die Zahl der Flüchtlinge nach der Niederschlagung des 1956er-Aufstandes, zogen nach dem Westen, vor allem nach Deutschland, Großbritannien und Österreich, um Arbeit zu finden. In Bosnien, Serbien, Mazedonien und erst recht in Albanien und im Kosovo spürt man eine enorme Emigrationsbereitschaft.

Gespenst der Entvölkerung

Statt der erhofften Verwestlichung nach der Wende geht das Gespenst der Entvölkerung um. Die Abwanderung betrifft nicht nur die ärztliche Versorgung. Die Wirtschaft spürt auch den Mangel an Fachkräften. In Rumänien fiel etwa die Zahl der Beschäftigten im Bauwesen von 800.000 im Jahr 1990 auf 320.000 2018. Aus Polen haben in den letzten zehn Jahren rund 3,3 Millionen Menschen zeitweilig im Westen gearbeitet. Inmitten der Brexit-Debatten rief der polnische Ministerpräsident Mateusz Morawiecki die eine Million in Großbritannien lebenden Polen zur Rückkehr auf. Das größte ostmitteleuropäische Land ist allerdings eine Ausnahme, weil schätzungsweise rund anderthalb Millionen Ukrainer in Polen beschäftigt sind.

Die meisten Regierungen Ost- und Mitteleuropas haben nach der Wende krasse soziale Ungleichheiten in Kauf genommen. Die Gewerkschaften waren im Allgemeinen zu schwach, um einen Kampf für soziale Gerechtigkeit zu führen, ein funktionierendes Steuersystem zu erzwingen und gegen die wuchernde Korruption aufzutreten. Nach glaubwürdigen Schätzungen haben seit dem Zusammenbruch des Ostblocks zwölf bis 15 Millionen Menschen ihre Heimat verlassen, um im Ausland, vor allem in Westeuropa, zu leben und zu arbeiten.

Die Folgen dieser im gesättigten Westen kaum wahrgenommenen Völkerwanderung prägen in mehrerer Hinsicht die mittel- und osteuropäischen Gesellschaften. Dass sehr oft die Jungen, Gebildeten und Kreativen auswanderten, hat die für Modernisierung und Europäisierung wirkenden Kräfte geschwächt und das Schüren der Furcht vor der Zuwanderung durch die Nationalisten erleichtert. (Paul Lendvai, 8.4.2019)