Rudolf Burger, emeritierter Professor und Uni-Rektor, tritt gegen eine Politik der Wohlmeinenden ein, die sich ausschließlich von Gefühlen leiten lässt: Erst das kalte Durchdenken der Lage feit vor Illusionen.

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Der Denker mit dem größten Formbewustssein ist zugleich der umstrittenste. Die Eleganz von Rudolf Burgers Reflexionen gilt als beispielhaft. Die polemische Stoßrichtung seiner Einlassungen brüskiert hingegen selbst Wohlmeinende. Burger formulierte angesichts der Flüchtlingswelle von 2015 sein (staatsrechtlich begründetes) Unbehagen an der "Willkommenskultur". Seine Essays und Gespräche zum Thema wurden nun von Bernhard Kraller herausgegeben, Titel: Multikulturalismus, Migration und Flüchtlingskrise (Sonderzahl). Das Bändchen wird am Mittwoch im Auditorium des Leopold Museums präsentiert (19.00).

STANDARD: Ihre Skepsis gegenüber den Ereignissen von 2015 wurde Ihnen vielfach übelgenommen. Ist es die schiere Heuchelei des links-liberalen Milieus, dass man Ihnen Gefühlskälte vorwirft?

Burger: Worunter heute die philosophischen und die sozialwissenschaftlichen Debatten leiden, ist die Vermischung von Agitation und Analyse. Das Ideal der theoretischen Soziologie ist die Insektenkunde. Man muss Menschen betrachten wie Fliegen. Etwas anderes ist es, wenn ich auf der Straße handle. Dann bin ich kein Theoretiker, sondern ein Mensch unter anderen. Sigmund Freud hat einmal gesagt: Was auf meiner Couch eine Neurose ist, ist im Vorzimmer eine Ungezogenheit.

STANDARD: Man muss von sich selbst absehen können?

Burger: Man kann in der Analyse gar nicht kalt genug sein. Man darf sich vor allem nicht von eigenen Wünschen leiten lassen. Marx schreibt: Einen Menschen, der sein Denken nach den gewünschten Resultaten richtet, nenne ich einen Lumpen.

STANDARD: Sie nehmen in Kauf, der Überbringer schlechter Nachrichten zu sein?

Burger: Die guten Nachrichten macht die Werbung. Mich beunruhigt die komplette Veränderung der Ausgangslage. Das 19. und 20. Jahrhundert weisen eine Unzahl von Konflikten auf, die säkular legitimiert waren, ob nationalistisch oder marxistisch. Erst mit der Revolution der Mullahs im Iran 1979 tritt eine vollkommen veränderte Situation ein. Seither nehmen islamistische, religiös firmierende Bewegungen rapide zu. Davor haben die Leute bei uns Angst. Mit Recht, wie ich meine.

STANDARD: Stellt der Umgang mit dem Thema Migration für uns eine Bewährungsprobe dar?

Burger: Für uns als säkulare, liberale Demokratien. Das Thema Migration stellt Anforderungen an die Rationalität der Politik wie an die demokratische Reife der Gesellschaft. Diese beiden Dimensionen muss man trennen.

STANDARD: Was wäre die bloße Rationalität von Politik?

Burger: Es gilt, an den Prinzipien des säkularen Rechtsstaates festzuhalten. Die müssen notfalls verteidigt werden. Wenn ich von Rechtsstaatlichkeit rede, bei gleichzeitiger Aufrechterhaltung der humanen Prinzipien, stellt sich die Frage: Gibt es etwas wie moralische Sicherheit? Politiker müssen verantwortlich handeln. Die Verbindung zur Gesinnungsethik darf dennoch nie abreißen. Gesinnungsethik bezieht ihre Impulse aus der moralischen Empfindung. Etwas soll nicht sein dürfen! Es darf nicht gefoltert werden.

STANDARD: Und umgekehrt?

Burger: Verantwortungsethik setzt zwingend eine Theorie über die Wirklichkeit voraus. Auf den Kategorischen Imperativ haben sich auch Stalinisten und Nazis berufen. Wenn ich als Bolschewik der festen Überzeugung bin, dass die Kapitalisten das Unheil der Geschichte darstellen, dann kann ich sie nicht nur, dann muss ich sie ausrotten, um einen befriedeten Zustand herzustellen. Daher gilt: Verantwortungsethik ist gefährlich, weil irrtumsanfällig.

STANDARD: Sie intervenieren gegen vorsätzliche Naivität?

Burger: Das Erstaunen darüber, dass gewöhnliche Menschen zu monströsesten Untaten fähig sind, ist kein philosophisches. Ich habe vor 20 Jahren über Multikulturalität im Rechtsstaat geschrieben. Ich habe dabei zu zeigen versucht, dass sie ein Spiel mit dem Feuer ist. Dass der moderne, säkulare Flächenstaat als Neutralisierungsinstanz entstanden ist: in einer Periode, in der ununterbrochen konfessionelle Kriege getobt haben, in ganz Europa. Die Berufung auf irgendwelche transzendenten Wahrheiten hat die Sache nicht befriedet, im Gegenteil. Und deshalb halte ich die Botschaft von Lessings Ringparabel im Grunde für gefährlich. Der Muslim, der Christ und der Jude, und jeder der drei glaubt, sein Ring sei der richtige. Das ist genau das Problem, nicht die Lösung!

STANDARD: Nicht nur muslimische Fundamentalisten führen ein Bewusstsein von Kränkung ins Feld, wenn sie sich rechtfertigen. Woher rührt die Empfindlichkeit?

Burger: Menschen sind hochentwickelte, aber idealistische Tiere. Anerkennung bedeutet symbolische Macht. Thomas Hobbes wusste das: "Uns macht auch der zukünftige Hunger hungrig!" Wir verlangen die Anerkennung dessen, den wir selbst anerkennen. Das setzt eine Spirale in Gang, die sich letztlich geschichtsbildend auswirkt. Deshalb habe ich auch nie an eine befriedete kommunistische Gesellschaft geglaubt, in der alle in Reichtum gleich leben. Das reicht nicht aus.

STANDARD: Wir betreten das Feld der Identitätspolitik?

Burger: Dieses Phänomen taucht in Überflussgesellschaften auf. Wenn es nicht mehr primär um die Überwindung der materiellen Not geht, setzen sich Identitätsmechanismen in Gang.

STANDARD: Sie beharren auf der Entfremdung des modernen Menschen. Sofern er sich emanzipiert, muss er dieses Geschick ertragen.

Burger: Das ganze kulturkritische Lamento, mit dem ich mich mein Leben lang beschäftigt habe, ging mir irgendwann entsetzlich auf die Nerven. Entfremdung ist eine Emanzipationskategorie. Es gibt die alte Unterscheidung von Gemeinschaft und Gesellschaft. Das Emanzipatorische am liberal-säkularen Verfassungsstaat ist eben nicht, dass er an Gemeinschaftsgefühle appelliert. Sondern er besitzt eine kalte Gerechtigkeitsrationalität. Ich trete nachdrücklich für den Sozialstaat ein. Ich bin nur sehr gegen das Almosengeben. Ich will nicht gutherzig sein, sondern ich will meine Steuern zahlen. (Ronald Pohl, 9.4.2019)