Sie sind Stars in der Meeresbiologie, obwohl sie ohne Muster oder Reliefs vorkommen: die gräulich-weiß gefärbten, völlig unscheinbaren Mondmuscheln.

Foto: Jillian Petersen

Ihr Äußeres ist nicht wirklich der Rede wert: blasse runde Schalen, gräulich-weiß gefärbt, ohne Muster oder Reliefs und das Ganze kaum zwei Zentimeter groß. Dennoch sind Loripes lucinalis und ihre Verwandten echte Stars – in der Welt der Meeresbiologie.

"Es ist eine der vielfältigsten Tierfamilien im heutigen Ozean", betont Jillian Petersen, Wissenschafterin an der Universität Wien. Insgesamt dürften die Lucinidae, zu Deutsch Mondmuscheln, über 400 verschiedene Arten umfassen. Auch in ihrem Auftreten vermögen die unscheinbaren Mollusken zu beeindrucken.

Loripes lucinalis zum Beispiel lebt im Untergrund von Seegraswiesen und erreicht dort Populationsdichten von mehr als 4000 Exemplaren pro Quadratmeter. In anderen Habitaten sind Mondmuscheln oft die einzigen vorkommenden Weichtiere, berichtet Petersen. Ihre Anpassungsfähigkeit mache den Unterschied.

Petersen ist Forschungsgruppenleiterin am Department für Mikrobiologie und Ökosystemforschung der Uni Wien. Ihr Projekt mit einer Laufzeit bis August 2023 wird vom Wiener Wissenschaftsfonds (WWTF) gefördert. Sie ist den Geheimnissen der Lucinidae schon seit Jahren auf der Spur. Mondmuscheln, erklärt die Mikrobiologin, leben stets in Symbiose mit Bakterien.

Diese Kooperation sei die Grundlage ihres ökologischen Erfolgs. Die Muscheln verfügen in ihren Kiemen über spezielle Zellen, in denen die Symbionten, sprich Bakterien, sicher und komfortabel untergebracht sind. Im Tausch für die Gastfreundschaft beliefern die Mikroorganismen ihre Wirte mit Nährstoffen.

Um diese zu produzieren, wenden die Bakterien einen raffinierten chemischen Trick an. Sie binden anorganischen Kohlenstoff aus CO2 organisch in Form von Kohlenhydraten. Pflanzen machen das bekanntlich auch – im Zuge der Photosynthese. Statt Sonnenlicht nutzen die Mondmuschel-Symbionten jedoch Schwefelwasserstoff (H2S) als Energiequelle. Das darin enthaltene Sulfid wandeln sie mithilfe von Enzymen in Sulfat um und verwenden die dabei freigesetzte Energie für die Kohlenhydratsynthese.

Im Meeresboden reichlich vorhanden

H2S ist im Meeresboden reichlich vorhanden. Es ist giftig, riecht übel nach faulen Eiern und entsteht, wenn organisches Material ohne Sauerstoffzufuhr zersetzt wird. Loripes' bakterielle Helferlein gedeihen praktisch dank Chemieabfalls. Auf dessen ständige Verfügbarkeit scheinen sich die Mikroben allerdings nicht verlassen zu wollen.

Lieber lagern sie winzige Schwefelkörnchen im Inneren ihrer Zellen als Notreserve ein. Für die Muscheln ist das ein zusätzlicher Vorteil, wie Petersen erläutert. Der Schwefel schützt die Weichtiere vor hungrigen Schnäbeln. Besonders gut lässt sich das im Nationalpark Banc d'Arguin an der Küste Mauretaniens beobachten.

Die ausgedehnten Wattflächen dort dienen alljährlich hunderttausenden Wattvögeln als Winterquartier. Loripes lucinalis kommt in Massen vor, wird aber von den gefiederten Gästen verschmäht. Die Schwefelkörnchen verderben ihnen den Appetit.

2016 gelang es einem Forscherteam, die Symbionten der Mondmuscheln genauer zu identifizieren. Jillian Petersen war eine der beteiligten Expertinnen. Sie und ihre Kollegen extrahierten die bakteriellen Chromosomen aus den Kiemen von fünf verschiedenen, vor Elba gesammelten Loripes lucinalis. Die bis dahin unbekannten DNA-Sequenzen zeigen deutliche Ähnlichkeit mit dem Erbgut von chemoautotrophen Bakterien aus Tiefseewürmern, die an heißen Schwefelquellen leben. Dennoch handelt es sich um eine eigenständige Mikrobenspezies. Man taufte sie auf den Namen Candidatus Thiodiazotropha endoloripes.

Bei der DNA-Analyse machten die Wissenschafter eine weitere verblüffende Entdeckung: Loripes' Symbionten sind offenbar in der Lage, anorganischen Luftstickstoff (N2) zu fixieren. In ihren Genen finden sich die Codes für Nitrogenase und begleitende Enzyme (vgl.: Nature Microbiology, Bd. 2, Art.-Nr. 16195). Ca. Thiodiazotropha endoloripes wäre somit nicht nur chemoautotroph, sondern auch hinsichtlich ihres Bedarfs an Proteinbausteinen autark.

Biochemische Selbstversorgung auf höchstem Niveau. Was dem Menschen erst mit der Ammoniaksynthese nach dem berühmten Haber-Bosch-Verfahren gelang, beherrschen Bakterien schon seit Jahrmillionen.

Profitieren von der Stickstoffgewinnung

Wie stark die Mondmuscheln selbst von der mikrobiellen Stickstoffgewinnung profitieren, lässt sich zurzeit nicht eindeutig sagen. Im Fleisch der Tiere wurden nur geringe Mengen des Stickstoff-Isotops 15N gefunden – ein Hinweis auf die direkte Aufnahme von N2, welches sehr arm an 15N ist. Ganz ungewöhnlich wäre eine solche Zufuhr jedenfalls nicht.

Auch bei Korallenarten wurden stickstofffixierenden Bakterien nachgewiesen. "Es ist eine notwendige Anpassung an das Leben in einer nährstoffarmen Umgebung", sagt Jillian Petersen. In den Korallen versorgen die Mikroben die ebenfalls symbiotischen Zooxanthellen, einzellige Algen, quasi mit Kunstdünger. Letztere beliefern ihren Wirt mit Nahrung. Ca. Thiodiazotropha endoloripes scheint das alles in Personalunion zu schaffen.

Was Petersen und ihre Arbeitsgruppe als Nächstes enträtseln möchten, ist die Kommunikation zwischen Symbionten und Mollusken. Welche Art von Signalen tauschen die Mondmuscheln mit ihren Mikroben aus, und wer steuert eigentlich wen?

"Wir fanden", sagt Petersen, "bakterielle Proteine in distalen Teilen des Muschelkörpers." Weit von den Kiemen entfernt also. Die Frage sei nun, ob diese Eiweißmoleküle den Stoffwechsel des Wirts beeinflussen. Solche Erkenntnisse würden auch Einblick in grundlegende biologische Prozesse ermöglichen.

Zur Finanzierung der Untersuchungen hat die Wissenschafterin auch einen mit 1,5 Millionen Euro dotierten ERC Starting Grant von der EU erhalten. In ihrem Labor stehen bereits Aquarien mit Miniatur-Seegraswiesen, in denen sich die Mondmuscheln wohlfühlen. Anfangs war das künstliche Ökosystem nur schwer zu erhalten, berichtet Petersen.

Inzwischen jedoch funktioniert alles bestens – dank Kaffeesatzes. Die Forscher mischen ihn in den Sand, wo er von bodenlebenden Mikroorganismen zersetzt wird und das nötige H2S liefert. (Kurt de Swaaf, 15.4.2019)