Das Schweizer Kernforschungszentrum Cern ist die Wiege des World Wide Web, wie wir es heute kennen.

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"Das World Wide Web wurde nicht in Hinblick auf Privatsphäre und Sicherheit konstruiert." Marco Aiello

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Haben Sie heute schon das Web benutzt? Selbst wenn Sie kein Browserfenster am PC oder Smartphone geöffnet haben, greifen viele Apps auf Informationen im Netz zu. 1989 war davon noch keine Rede.

Der Cern-Physiker Tim Berners-Lee hatte gerade erst die Software Enquire geschrieben: Sie sollte ihm schlicht dabei helfen, den Überblick über sein Labor zu behalten. Das Programm verknüpfte Projekte, beteiligte Personen und Computer durch Links, stellte also einen Hypertext dar.

Nun machte sich Berners-Lee daran, ein komplexeres System zum Informationsmanagement am gesamten Cern zu erstellen – und entwickelte damit vor 30 Jahren das World Wide Web, auf welches durch das Internet von mehreren Rechnern aus zugegriffen werden kann. Heute ist es nicht mehr aus dem Alltag wegzudenken.

Berners-Lee wusste damals noch nichts über jene Vordenker, die bereits ab den 1940er-Jahren Ideen zu Hypertextmaschinen formuliert hatten. Ein früher Vorläufer ist das Memex-Konzept, die Vorstellung eines Schreibtisches mit Bildschirmen und Mikrofilmgeräten, der Dokumente speichern und miteinander verknüpfen kann.

1960 entwickelte der Informatikpionier Ted Nelson, der auch den Begriff Hypertext prägte, das Projekt Xanadu, eine komplexe Art des Datenspeicherns mit Verweisen. So komplex, dass sie nie umgesetzt wurde. Berners-Lee kam unabhängig davon erneut auf das Konzept und erfand so gewissermaßen das Rad neu.

Eine beachtliche Leistung, die auch Schwierigkeiten mit sich brachte, so der Befund von Marco Aiello, Professor für Informatik an der Universität Stuttgart. Durch eine Auseinandersetzung mit früheren Ideen und einem passenden Aufbau hätten manche Probleme eher berücksichtigt werden können.

Daher sei es wichtig, sich der Geschichte des eigenen Fachs bewusst zu sein. Über den Erfolg des World Wide Web referierte Aiello vergangene Woche beim Workshop für digitalen Humanismus, organisiert von der TU Wien, der MA 23 und dem Wiener Wissenschafts-, Forschungs- und Technologiefonds (WWTF).

STANDARD: Voriges Jahr erschien Ihr Buch "The Web Was Done by Amateurs" (auf Deutsch in etwa: Das Netz wurde von Amateuren gemacht). Ein provokanter Titel.

Marco Aiello: Ich zitiere damit Alan Kay (US-amerikanischer Informatiker und Träger des Turing Award, Anm.). Vor ein paar Jahren las ich ein Interview mit ihm, in dem er sich über viele Aspekte des Web beschwerte und diesen Satz sagte. "Von Amateuren gemacht" hat einen negativen Beiklang. Ich wollte ergründen, inwiefern er damit recht hat.

STANDARD: Sie sagen, dass ein besser strukturiertes, ausgefeiltes System wohl nicht so erfolgreich gewesen wäre. Warum?

Aiello: Ich nenne drei Gründe, weshalb das Web so populär geworden ist. Einer davon ist die Schlichtheit. Es ist ein einfaches System, keine komplizierte Schichtenarchitektur, wie wir sie in anderen Softwaresystemen nutzen, bei denen jede Schicht einer Funktion zugeordnet ist. Dadurch ist es relativ leicht, etwas hinzuzufügen, ohne sich im Detail auszukennen. Bestimmte Veränderungen werden dadurch aber schwierig. Es hat immer wieder Nachbesserungen gegeben.

STANDARD: Was sind die anderen beiden Gründe?

Aiello: Das Web ist eine offene Plattform, für die jeder etwas entwickeln kann. Ihr Erfinder Tim Berners-Lee hat das unterstützt und in den 90er-Jahren darauf bestanden, alles lizenzfrei zu machen, sodass jeder das System erweitern konnte. Durch das Engagement vieler Leute wurde es vom Werkzeug einer einzigen Person zu einer globalen Ressource. Und zuletzt entstand es einfach zur richtigen Zeit am richtigen Ort.

STANDARD: Eine Zufallskomponente also.

Aiello: Das ist nicht zu unterschätzen. Die Pioniere des Internets und verschiedener Hypertextsysteme hatten große Visionen und wollten eine Technologie schaffen, die die Welt verbessert. Das Web hingegen war ein Amateurprojekt, um lokal ein Problem zu lösen. Trotzdem wurde es unglaublich populär.

STANDARD: Gab es damals praktische Alternativen?

Aiello: Ende der 80er-Jahre gab es Konferenzen, die sich nur mit Hypertextualität befassten, wo auch diverse Vorschläge präsentiert wurden. Software wie HyperCard von Apple war zwar recht beliebt, man konnte damit Daten auf dem eigenen Rechner organisieren. Das war aber isoliert, hatte also keine Netzwerkfunktion wie eben das Web. Wäre es fünf Jahre später herausgekommen, hätte sicher ein anderes System seinen Platz eingenommen. Es ist eine Erfolgsgeschichte, bei der man sich aber fragen kann, ob nicht viele Probleme, vor denen wir heute stehen, im amateurhaften Design verwurzelt sind.

STANDARD: Welche Probleme meinen Sie?

Aiello: Das Web wurde nicht in Hinblick auf Privatsphäre und Sicherheit konstruiert. Derartiges musste im Laufe der Zeit ergänzt werden: Datenverschlüsselung oder Techniken wie Torrents, durch die der eigene Datenverkehr mit dem der anderen Nutzer vermischt wird. Letztere sind aber nicht Mainstream oder in die Programmstruktur eingebettet. Für Firmen, die für ihre Werbung auf Userprofile angewiesen sind, wäre das natürlich ein Problem gewesen. Das ursprüngliche Web war zwar simpel, aber nicht zukunftssicher.

STANDARD: Wie wird sich die Art, wie wir das Web nutzen, in Zukunft verändern?

Aiello: Viele Innovationen gehen in Richtung Sprachsteuerung und einer Vermittlung durch persönliche Assistenzprogramme wie Alexa oder Siri. Diese sind noch sehr naiv, aber wir haben immer bessere Werkzeuge wie maschinelles Lernen, mit denen sie mehr und mehr verstehen.

STANDARD: Auch hier gibt es Vorbehalte in Bezug auf den Datenschutz.

Aiello: Generell teile ich die Sorge, dass die Macht von Unternehmen hier sehr groß ist. Dazu gehört, dass ein Großteil des Web-Inhalts heute durch Apps vermittelt wird. Das Web wird zu einer Wissensinfrastruktur im Hintergrund, auf die wir per App zugreifen. Wir geben den Firmen dahinter dadurch immer mehr Kontrolle. Wie wir damit umgehen, hat einen Einfluss darauf, ob das Web in zehn Jahren entweder viel besser oder viel schlechter sein wird. (Julia Sica, 12.4.2019)