Wollte eine junge Frau an eine technische Hochschule, musste ihr individuelles Gesuch im Unterrichtsministerium bearbeitet werden. Übermäßige Bürokratie führte schließlich zu einer generellen Zulassung von Frauen, erinnert Bundesminister Heinz Faßmann an die Situation vor 100 Jahren. Im Gastkommentar plädiert er für das Zurechtrücken stereotyper Erwartungshaltungen.

Minister Faßmann: Es ist noch ein weiter Weg zur einer Studienwahl ohne Rollenbias.
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Gesellschaftliche Fairness und eine meritokratische Statuszuweisung, die von Leistung abhängig ist und nicht von zugeschriebenen Merkmalen, sind mir wichtig. Frau ist Frau und Mann ist Mann – natürlich. Wenn es dann heißt, Frau ist gütig, nett, sozial und nur geeignet, Kinder aufzuziehen, und Mann ist stark, außenorientiert und versorgt die Familie, dann sind das zugeschriebene Merkmale, basierend auf einer sozialen Praxis, aber diese Praxis kann auch eine andere sein. Für mich ist das Aufbrechen tradierter Rollenbilder wichtig. In unserer Gesellschaft hat dieses Aufbrechen lange gedauert und ist historisch gesehen auch noch ein vergleichsweise junges Phänomen – was sind schon 100 Jahre? Und dieses Aufbrechen ist auch lange noch nicht beendet. Ganz im Gegenteil, die Aufgabe stellt sich immer wieder aufs Neue.

Vor 100 Jahren, im April 1919, ein halbes Jahr nach Republiksgründung, hat das Unterrichtsministerium einen Erlass veröffentlicht, wonach Frauen auch an technischen Hochschulen studieren dürfen, allerdings nur, soweit sie "ohne Schädigung und Beeinträchtigung der männlichen Studierenden nach den vorhandenen räumlichen und wissenschaftlichen Einrichtungen der einzelnen Hochschulen Platz finden können". Otto Glöckel, seines Zeichens Unterstaatssekretär für Unterricht, hat mit folgenden Worten den Erlass eingeleitet: "Es lässt sich nicht verkennen, dass es dem Zuge der Zeit entspricht, auch Frauen zum Studium an den technischen Hochschulen zuzulassen." Das klingt ja fast schon resignierend, es lässt sich nicht verkennen, dass es dem Zuge der Zeit entspricht.

Übermäßige Bürokratie

Wie kam es dazu? Nach der Öffnung des Universitätsstudiums für Frauen meldeten sich ab der Jahrhundertwende Elternvereinigungen – und vor allem Väter von Töchtern, die Realschulen besuchten – vermehrt zu Wort: Sie ersuchten in zahlreichen Petitionen um eine Zulassung ihrer Töchter zu den technischen Hochschulen. Und diese ab dem Jahr 1910 sehr stark zunehmende Anzahl an Zulassungsansuchen für Frauen führte schließlich zu einem enormen bürokratischen Aufwand. Jedes Gesuch musste vom damaligen Unterrichtsministerium einzeln genehmigt werden, weswegen dann auch die technischen Hochschulen 1916/17 von sich aus beim Ministerium anregten, eine generelle Zulassung von Frauen zu erlassen. So kann auch übermäßige Bürokratie sehr Positives bewirken.

Auch der Erste Weltkrieg brachte wesentliche Veränderungen: Viele Frauen wurden in "Männerberufen" eingesetzt – der Bedarf an Ingenieurinnen und Ingenieuren für die Kriegswirtschaft und den anschließenden Wiederaufbau war sehr hoch. Frauen übernahmen besonders technische Hilfs- und Routinearbeiten, aber durchaus qualifiziert als Laborantinnen oder technische Zeichnerinnen. Der politische Systemwechsel wurde schließlich im April 1919 vollzogen.

Rollenbias bei Studienwahl

Wie ist die Situation von Frauen in Mint-Studien heute? Nun ja. Verglichen mit 1919 sieht das Ergebnis positiv aus, aber ein weiter Weg zur einer Studienwahl ohne Rollenbias liegt noch vor uns.

Im Wintersemester 2017 waren an den österreichischen Universitäten rund 95.000 Studierende in Mint-Fächern inskribiert, davon nur ein Drittel Frauen. An den Fachhochschulen studieren knapp 20.000 Personen ein Mint-Studium, der Frauenanteil beträgt gar nur ein Viertel. Betrachtet man die einzelnen Mint-Studien, dann ergibt sich ein differenziertes, aber nicht leicht zu interpretierendes Bild: Architektur, Lebensmittel- und Biotechnologie, Landschaftsplanung und Landschaftspflege, Biologie, molekulare Biologie, Biomedizin und Biotechnologie, Pharmazie und Ernährungswissenschaften sind sozusagen weiblich mit einem Frauenanteil von über 50 Prozent. Dagegen sind Telematik, Mechatronik, Maschinenbau, Elektrotechnik, Petroleum Engineering, Informatik, Energietechnik oder technische Physik klar männlich mit einem Anteil von mindestens 80 Prozent Männer.

Der Anteil an Mint-Absolventinnen betrug im gleichen Semester 36 Prozent. Das ist beachtlich. Frauen bleiben bei ihrer Studienwahl und schließen dieses Studium etwas häufiger erfolgreich ab – im Vergleich zu ihren männlichen Kollegen.

Frauen schließen Mint-Studien häufiger ab

Das Problem ist also nicht das Studieren, die Beherrschung des Faches oder die intellektuellen Voraussetzungen, sondern die Studienwahl. Es beginnen eben deutlich seltener Frauen mit einem Mint-Studium als Männer, aber wenn sie sich dazu entschlossen haben, sind sie erfolgreicher. Politisch muss man also Maßnahmen setzen, um die Studienwahl zu beeinflussen – durch das frühe Wecken von Interessen im und durch das Elternhaus, im Elementarbereich und an den Volksschulen.

Das Problem ist die studienbezogene Erstentscheidung. Das ist der entscheidende Moment, bei dem sich Frauen von den Mint-Fächern ab- und anderen Fächern zuwenden. Das hat in Österreich etwas mit der Unterrepräsentanz im HTL-Bereich zu tun, ist aber ein weltweites Phänomen.

Entscheidung für das persönliche "Bestfach"

Eine Studie belegt, dass die Leistungen in den Naturwissenschaften und Mathematik von Mädchen und Buben bei den Pisa-Tests recht ähnlich sind. Die Autoren dieser Studie analysierten auch, welches Fach das persönliche "Bestfach" ist, in welchem Fach die Scores also relativ am höchsten zu allen anderen Fächern sind. Das Ergebnis überrascht – und auch wieder nicht: Fast alle Buben schnitten individuell bei den Naturwissenschaften am besten ab, Mädchen hingegen beim Lesen beziehungsweise Leseverständnis, gleichsam zusätzlich. Im Klartext: Schülerinnen sind zwar naturwissenschaftlich oft genauso gut wie Schüler, beim Lesen sind sie aber noch besser.

Und darin liegt möglicherweise eine Erklärung für die studienbezogene Erstentscheidung gegen ein Mint-Studium. Man studiert, was man am besten kann, was man schätzt und worin man seine Talente sieht. Frauen sind in den naturwissenschaftlichen Fächern gut, aber oft in anderen Fächern noch besser. Wenn Frauen also die Wahl zwischen einem reinen Mint-Studium und beispielsweise einem Studium der Geistes- und Sozialwissenschaften haben, fällt die Entscheidung oft auf das Letztere.

Studienwahl anderswo

Noch ein interessantes Faktum: Man würde vermuten, dass der Anteil weiblicher Absolventen von Mint-Studien in skandinavischen Staaten höher ist als beispielsweise in nordafrikanischen und muslimischen Staaten. Das Gegenteil ist jedoch der Fall. In Staaten wie Finnland, Norwegen oder Schweden ist die Gleichberechtigung zwischen Männern und Frauen ausgeprägt und die Qualität der Ausbildung ausgezeichnet. Aber weniger als ein Viertel der Studienabgänger in den Mint-Fächern ist dort weiblich. In Ländern wie Albanien oder Algerien werden hingegen bis zu 40 Prozent der einschlägigen Abschlüsse von Frauen gemacht – obwohl diese, was die Gleichberechtigung betrifft, eher am anderen Ende der Skala zu finden sind.

Abermals kann eine Paradoxie als Ursache ins Treffen geführt werden. In eher gleichberechtigten Ländern – die in der Regel reicher sind, wo es gute soziale Absicherungen gibt und die Lebenszufriedenheit meist höher ist – genießt man die entsprechende Freiheit, sich gemäß seiner Begabungen im Bestfach zu entfalten. Und das Bestfach ist im geschlechtsspezifischen Vergleich eben weiblich. Wenn Frauen in nordafrikanischen und muslimischen Staaten ihren Weg machen wollen, dann müssen sie ein Mint-Fach studieren. Die Freiheit, ein Fach aus dem Bereich Geisteswissenschaften, Sozialwissenschaften oder Kulturwissenschaften zu wählen und dennoch Karriere zu machen, haben sie nicht oder eben seltener.

Stereotype zurechtrücken

Zusammengefasst kann man sagen: viel erreicht, noch viel zu tun. Es wäre wünschenswert, wenn die Zahl von Frauen in Mint-Studien weiter ansteigt. Weibliche Studierende leisten damit nicht nur eine wichtige kollektive Vorreiterrolle, sie werden es im späteren Berufsleben auch leichter haben. Die Trackingstudien zeigen, dass die Lohndynamik und die Karriereperspektiven in den Mint-Studien ausgezeichnet sind.

Wir sollten weiter an den Bildern im Kopf arbeiten, ungleiche Rollenzuschreibungen hinterfragen und stereotype Erwartungshaltungen zurechtrücken. Und wir müssen weiter die wichtigen Hausarbeiten erledigen – im Ministerium und an den Universitäten: Informationen über Studienmöglichkeiten verbreiten, weibliche Rolemodels in den Vordergrund rücken und Mädchen Mut machen, Mint-Fächer zu studieren. (Heinz Faßmann, 29.4.2019)