"Aufhören ist einfach keine Option für uns, wir wollen Gerechtigkeit und Frieden für das Land": Hadi Al-Khatib und sein Team dokumentieren Kriegsverbrechen anhand von Social Media.

Foto: Annabell Lutz

Hadi Al-Khatib sichert jedes Video, jedes Foto, jeden Beweis. Alles, was er im Internet zum Krieg in Syrien findet. Er identifiziert Landschaften und Gebäude, vergleicht diese mit Google Maps. Er analysiert Videos von Luftangriffen und gleicht sie mit Satellitenaufnahmen ab. Er notiert sich Datum und Uhrzeit der Angriffe und überprüft, ob die Daten zur Upload-Zeit passen.

Er stellt fest, welche Munition auf den Bildern zu erkennen ist, und recherchiert, woher sie kommt. Er ermittelt, ob es sich bei den Angriffszielen um Zivilgebiete handelt. Er gleicht die Aufnahmen mit anderen Medienberichten ab. Am Ende entscheidet Hadi, ob die Bilder echt oder gefälscht sind.

Folter, Mord und chemische Waffen

Hadi Al-Khatibs Arbeit ist ein Wettlauf gegen die Zeit. So schnell, wie die Aufnahmen von Folter, Mord und chemischen Waffen online gehen, verschwinden sie auch wieder. Denn Videoplattformen löschen gewaltsame Inhalte meist automatisch – auch wenn es sich dabei nicht um Propagandamaterial handelt. Für Hadi ist jede entfernte Datei ein Beweis, der verlorengeht. Ein Beweis, der ein wenig Gerechtigkeit für die unzähligen Kriegsopfer hätte bedeuten können.

Mittlerweile hat Hadi einige Helfer gefunden. Insgesamt arbeiten sie zu dritt in Vollzeit, fünf weitere helfen in Teilzeit in Hadis Büro in Berlin aus. Anhand des verifizierten Bildmaterials kreieren sie zusammen Timelines und Muster. Sie versuchen, militärische Befehlsketten nachzuvollziehen. Langsam wird der Kreis der möglichen Verantwortlichen enger.

Syrien, Jordanien, Deutschland

Hadi Al-Khatib ist in Damaskus aufgewachsen und zur Universität gegangen. Während seines Studiums hat er mit verschiedenen Menschenrechtsorganisationen zusammengearbeitet. Eine Arbeit, die er nach seinem Universitätsabschluss hätte aufgeben müssen. Wie vielen jungen Männern stand Hadi die Militärpflicht bevor. Was das in einer unruhigen Zeit bedeuten würde, konnte er nur befürchten. Im Jahr 2010 – einige Tage nach seinem Abschluss – entschied er sich kurzerhand, das Land zu verlassen.

Hadi ging nach Jordanien – das erste Land, das ihm in den Kopf kam. Er kam bei Freunden unter, suchte Arbeit. Bald wurde er für das Tactical Technology Collective tätig. Eine NGO, in der sich Hadi damit beschäftigte, neue Technologien gegen Menschenrechtsverletzungen zu nutzen. Doch die Organisation sollte bald umziehen – und Hadi mit ihr. Es ging nach Berlin.

In Syrien brach der Krieg aus. Hadi verfolgte die Entwicklungen, von den ersten Tagen an. Vor allem über Social Media. Dort konnte auch die breite Masse von den Menschenrechtsverletzungen im Land berichten. Hadi fühlte sich machtlos, wollte etwas tun.

2013 entschied er sich, in den Süden der Türkei zu reisen. Mit Anwälten und Journalisten versuchte er, Akten und Bildmaterial von Syrien in die Türkei zu bringen. Er wollte Beweise für die vielen Kriegsverbrechen sammeln. Doch an Checkpoints und Grenzen ging zu viel Material verloren. Hadi kehrte zurück nach Berlin.

Ein Krieg, gestreamt auf Social Media

Seit 2014 hat Hadi seine eigene Organisation, das Syrian Archive. Aus dem Internet konnte er mit seinem Team bislang gut drei Millionen Dateien sicherstellen, die in Verbindung mit dem Syrien-Krieg stehen. Erst 6.000 davon konnte das Team verifizieren. Das Überprüfen auf Echtheit ist ein langer, doch notwendiger Prozess. "Etwa zehn Prozent des Video- und Bildmaterials ist Desinformation", sagt Hadi im April 2019 in Perugia, wo er das Internationale Journalismus-Festival besucht und von seinem Fortschritt berichtet. Besonders erschreckend sei, dass falsche Informationen oft von im Krieg beteiligten Regierungen kommen.

Wenn Hadi über seine Arbeit spricht, wird klar, dass sich der Syrien-Konflikt in einem Aspekt stark von bisherigen Konflikten unterscheidet: Es ist der erste Krieg, der weitgehend über Social Media gestreamt werden kann – eine Basis für die Arbeit des Syrian Archive.

Große psychische Belastung

Die Recherchen des Teams sind keine gewöhnlichen. Videomaterial des Syrien-Kriegs zu verifizieren heißt nicht nur, technische Routinen zu durchlaufen. Es bedeutet, tagtäglich Folter, Vergewaltigung und Massenmorde zu sehen. Es ist nicht einfach, diese Bilder zu verarbeiten. Ob das auf Dauer machbar ist?

"Ich habe noch nie darüber nachgedacht, mit dieser Arbeit aufzuhören. Aufhören ist einfach keine Option für uns, wir wollen Gerechtigkeit und Frieden für das Land. Und das kann nicht passieren, wenn die Menschen nicht wissen, was in diesem Krieg passiert ist. Dennoch müssen wir darüber nachdenken, unsere Arbeit erträglicher zu gestalten, auch für neue Mitglieder. Wir müssen etwa nach der Arbeit andere Dinge tun, uns ablenken. Unser Team spricht auch wöchentlich mit einem Psychologen", sagt Hadi Al-Khatib.

Noch ist unklar, ob die Dokumente des Syrian Archive als Beweismittel vor syrischen und internationalen Gerichten eingesetzt werden können. Hadi ist zuversichtlich: "Das Bildmaterial kann vielleicht nicht in jedem Fall als Beweismittel dienen, allenfalls kann es Richtern aber helfen zu verstehen, was in Syrien passiert ist." In Deutschland sieht er erste Erfolge. Einige Anwälte würden damit beginnen, seine Dokumente zu überprüfen und herauszufinden, wie das Material in offiziellen Prozessen eingesetzt werden kann. (Annabell Lutz, 12.4.2019)