Drill, Gewalt und systemische Begünstigung von Magersucht: Die am Dienstag nach Recherchen des "Falter" bekanntgewordenen verheerenden Zustände an der Ballettakademie der Wiener Staatsoper werden aktuell sowohl intern als auch von externen Behörden untersucht. Am Mittwoch bestätigte eine ehemalige Schülerin der Akademie in der ORF-Sendung "Magazin 1" die Vorwürfe "voll und ganz". Sie sei mit 14 Jahren von der mittlerweile entlassenen Lehrerin Bella R. aus Russland unterrichtet worden, der ein Großteil der Vorwürfe angelastet wird.

Es habe aber auch Fehlverhalten weiterer Lehrer gegeben, so die Schülerin. Außerdem widersprach sie der Darstellung, dass die Akademieleitung nicht frühzeitig über die Zustände Bescheid wusste. "Meine Klasse hat sich mehrfach beschwert. Wir hatten nur nie die Möglichkeit, unsere Meinung so zu sagen, dass es Konsequenzen gab. Am nächsten Tag wurden wir von der Lehrerin zusammengeschrien, warum wir uns beschweren würden."

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Mit 17 habe sie die Akademie schließlich verlassen. "Ich habe sehr spät pubertiert und dann Gewicht zugelegt. Da ist es dann sehr schnell eskaliert. Meine Lehrerin sagte mir, sie wiege sich viermal am Tag ab und habe Abnehm-Challenges mit anderen. Sie war mit ihrem eigenen Körperbild nicht im Reinen." Es habe ein Lehrsystem geherrscht, "das auf Demütigung und Respektlosigkeit beruht", so die frühere Schülerin, die jetzt personelle Konsequenzen fordert: "Manche gehören sofort suspendiert." Es gebe aber "definitiv Lehrer, die sich durchschleichen, bei denen es wahrscheinlich keine Konsequenzen hat".

Noja unterrichtet weiter

Vorerst keine Konsequenzen hat die Sache für Simona Noja, seit 2010 Direktorin der Akademie. Ganz im Gegenteil: Sie übernahm nach dem Abgang der mutmaßlich sadistisch agierenden Lehrerin Bella R. die Verantwortung für deren Klasse und unterrichtet diese derzeit selbst. Bei einem Medienauftritt gab sich Noja weniger einsichtig als allgemein erwartet. Sie strich etwa hervor, dass Bella R. immer "gute Ergebnisse" geliefert und es auch positive Rückmeldung über sie gegeben habe.

Pikant ist die Tatsache, dass Bella R. zwischen 2000 und 2003 schon einmal an der Akademie tätig war. Von der damaligen Leiterin Jolantha Seyfried, heute Professorin an der Musik-und-Kunst-Privatuniversität, wurde R. damals aber gekündigt. Seyfrieds Nachfolgerin Noja hat die Lehrerin wieder an die Schule zurückgeholt. Von deren Vorgeschichte habe sie "nichts gewusst", sagt Noja. Seyfried widersprach dem im Gespräch mit Ö1. Denn Noja habe sich über den Rauswurf von R. damals sogar bei Ex-Operndirektor Ioan Holender beschwert.

Warum darf Noja ihren Job behalten? Aus der Staatsoper heißt es, es habe über die Direktorin selbst nie Beschwerden gegeben. Zuerst müsse man jetzt "genauestens untersuchen". Erst dann könne man Schlüsse ziehen.

Solotänzer verteidigen Akademie

Die Ersten Solotänzer an der Wiener Staatsoper, Natascha Mair und Jakob Feyferlik, haben gemeinsam die Ballettakademie absolviert. Im Gegensatz zu den Kritikern wollen sie von Missständen nichts bemerkt haben. "Es gab bei uns keine Übergriffe, keine sexuellen, keine physischen und auch keine psychischen", versicherte Mair der APA.

Dass die Ausbildung an der Ballettakademie sehr hart ist, stellten die Solotänzer nicht in Abrede. "Das ist Hochleistungssport, es geht um Ballett auf internationalem Niveau und nicht um ein Hobby", sagte Feyferlik. Das medial gezeichnete Bild sei aber falsch. "Meine Mutter hat mich jetzt gefragt, ob sie sich Vorwürfe machen muss, dass sie mich da nicht rausgenommen hat. Das muss sie natürlich nicht, das ist völliger Unsinn", so Feyferlik. Er wurde etwa vom Lehrpersonal durchwegs "sehr gefördert".

Auch Mair stellte in Abrede, schlecht behandelt worden zu sein. "Aber einem Spitzensportler, der sich auf Olympische Spiele vorbereitet, wird auch nicht nur ständig auf die Schulter geklopft. Ich bin aber jemand, der besser durch Kritik als durch Lob lernt", erklärte sie. Übergriffe erlebte sie in ihrem Umfeld nicht – auch keine sexuellen. "Das wäre das absolute No-Go", unterstrich Mair.

Bessere medizinische Betreuung gefordert

Natürlich gebe es aber auch Probleme: Wenn die jungen Mädchen etwa in die Pubertät kommen und sich ihre Körper verändern, dann ist die Gefahr, in eine Essstörung abzugleiten, natürlich gegeben. "Hier wäre psychologische Betreuung wichtig", sagte Mair. Dass besonders die Tänzerinnen einem ästhetischen Körperideal unterliegen, ist dem Ballett aber immanent. "Man bekommt auf internationalem Niveau sonst einfach keine Rollen. Das ist die Realität." Die gelte übrigens auch für Männer.

Was sich die Tänzer wünschen, ist eine bessere medizinische Begleitung. "Die meisten Verletzungen entstehen durch Überlastung", so Mair. Vorbild hierfür wäre etwa das englische Royal Ballett Medical Center, bei dem den Tänzern ein ganzes Team von Ärzten, Therapeuten, aber auch Pilates-Trainern zur Verfügung steht.

Feyferlik warnte davor, in der Diskussion die Ballettakademie als Institution infrage zu stellen. "Es ist eine der besten Ballettschulen der Welt." Begrüßen würde er aber, wenn Ballettlehrer – wie etwa in Frankreich – auch eine pädagogische Ausbildung bekommen würden. (stew, APA, 11.4.2019)