Zollbeamtin mit Riecher: Eva Melander als Tina in "Border".

Foto: Filmladen

Ein Troll, wer hier nicht gleich zwei Liebende erkennen will: Eva Melander (re.) und Eero Milonoff in "Border".

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Assimilierung und Integration sind Themen, die im europäischen Kino gerne aufgegriffen werden. Doch selten stechen die betreffenden Personen so ins Auge wie in Border (Gräns). Mit ihrer vorgewölbten Stirn, der klobigen Nase, den wulstigen Lippen und braunen Zähnen ist Tina (Eva Melander) eine Erscheinung, die die Sinne in Aufregung versetzt. Man weiß einfach nicht, in welche Schublade, geschweige denn zu welcher ethnischen Gruppe sie passen könnte. Das erzeugt gleich einmal jenes Gefühl von Desorientierung, dem dieser Film viel von seiner eigenartigen Stimmung verdankt.

Dass Tina dazugehört und doch wieder nicht, ob sie ein Mensch mit Chromosomendefekt oder doch etwas ganz anderes ist, das bleibt in Ali Abbasis Film ein gutes Stück lang in der Schwebe. Der iranisch-schwedische Regisseur hat sich mit seiner Adaption von John Ajvide Lindqvists Roman, der schon hinter dem Vampirfilm Let the Right One In stand, ein Stück skandinavische Mythologie einverleibt. Das Fantastische bleibt auch hier auf enger Tuchfühlung mit der Gegenwart. Tina betrachtet sich zunächst nur als Außenseiter, nicht mehr. Ihr eigenwilliges Aussehen hat ihr ein stilles, introvertiertes Wesen eingebracht.

NEON

Border legt dann allerdings schrittweise nahe, dass in Tina noch andere Eigenschaften verborgen sind. An der Grenzkontrolle arbeitet sie in einer Funktion, die sonst Hunden vorbehalten ist: Sie erschnüffelt, ob sich jemand mit verbotenen Substanzen durchmogeln will. Sie hat Zugang zu den Gefühlen der Menschen, ob sich jemand ängstlich oder schuldbewusst verhält. Nichts entgeht ihrer großen Nase.

Dass Tina ein intensiveres Verhältnis zur Natur, zu allen tierischen Lebewesen hegt, ist ein weiteres Indiz ihrer Andersartigkeit. Es sind fast romantische Momente des Einswerdens mit der Welt, wenn sie nach der Arbeit barfuß in den Wald läuft oder die Hand tief ins Moos gräbt. Dafür, dass Tinas unterdrückte Natur tatsächlich an die Oberfläche steigt, braucht es jedoch noch einen äußeren Auslöser.

Irritationen und Maden

Abbasi orientiert sich im Grunde an den Erzählmustern des Coming-out-Films – Tina muss den Mut finden, genauer hinzusehen. Der Prinz, der Tina schließlich näher an ihre wahren Bedürfnisse und damit ihre Identität heranführt, sieht dann noch klobiger als sie selbst aus. Er verhält sich auffälliger; anders als sie schert er sich nicht um den Blick der Menschen, deren Befremden.

Mit dem Erscheinen von Vore (Eero Milonoff) macht Abbasi erst richtig deutlich, warum sein Film "Grenze" heißt. Nach und nach stellt dieser merkwürdige Fremde Tinas verlässliche Normen infrage und führt stattdessen andere Unterscheidungen ein. Im zunächst noch realistischen Setting treten immer fantastischere Irritationen auf. Vom Menschen neigt sich Border hin zur Entdeckung einer anderen Art – und erzählt zugleich eine nicht ganz gewöhnliche Liebesgeschichte.

Schon Vores Verführungskunst ist von der ausgefalleneren Art. Irgendwoher weiß er, dass Tina beispielsweise bei Maden, die er aus einer Baumrinde herauslöst, einfach nicht widerstehen kann. Und ist der anfängliche Ekel einmal überwunden, wächst die Anziehung schnell ins Bodenlose. Die Sexszene aus Border muss als eine der unnachahmlicheren des Kinojahres gelten. Welches Geschlecht sich dabei mit welchem anderen vereint, ist nicht ganz einfach zu bestimmen.

Ähnlich wie David Lynch

Abbasi hält noch einige andere Überraschungen parat – eine davon, die den Film in Richtung Thriller um Kindesmissbrauch führt, wirkt zu überfrachtet. Wie er soziales Außenseitertum mit einem guten Gespür fürs Monströse vermittelt, erinnert am ehesten an den frühen David Lynch, an Filme wie Eraserhead oder The Elephant Man. Allerdings verharrt sein Film mehr innerhalb der Regeln des Genrefilms – er will die Selbstbestimmung Tinas auch zu Ende erzählen.

Verblüffend bleibt, wie viele gegenwärtige Debatten von Zugehörigkeit Abbasi mit seiner Parabel aufzufangen weiß. Begriffe wie Rassismus oder Ausgrenzung muss er nicht einmal aussprechen. Die Frage, zu welcher Kultur man sich bekennt, führt letztlich sogar Tina und Vore an die Grenzen ihrer Toleranz. Mühelos gelingt es dem Film, die Kritik an menschlicher Hybris mit der Lust zu kombinieren, die Welt mit ausgeborgten Sinnen zu erfahren. (Dominik Kamalzadeh, 12. 4. 2019)