Entwickle sich der Frauenanteil weiter linear, dauere es noch 200 Jahre, bis die Geschlechter gleich verteilt seien, sagt TU-Rektorin Seidler.

Foto: Christian Fischer

STANDARD: Seit 100 Jahren dürfen Frauen an der TU Wien studieren. Sie haben als erste Professorin und erste Rektorin auch Meilensteine gesetzt. Sehen Sie sich als Vorbild?

Seidler: Ja, aber nicht, weil ich eine Frau bin. Sondern in dem, was ich tue, als Wissenschafterin und Wissenschaftsmanagerin.

STANDARD: Hatten Sie ein Vorbild in Ihrer Karriere?

Seidler: Nicht wirklich im Sinne eines Rolemodels. Wenn, waren das meist Männer. Zum Beispiel mein Doktorvater Wolfgang Grellmann.

STANDARD: Ursprünglich wollten Sie Sonderpädagogik studieren. Wie sind Sie in der Werkstofftechnik gelandet?

Seidler: Mir ging es wie vielen jungen Leuten: Ich hatte viele Interessen, wusste aber nicht, was ich wollte. Ich gab gern Nachhilfe und wollte mit Menschen arbeiten, daher entschied ich mich für Sonderpädagogik. Die Studienvergabe der DDR war sehr rigide, und ich bekam stattdessen einen Chemie-Platz. Meine Freundin erhielt statt ihres Wunschplatzes einen in Werkstofftechnik. Ihr war das zu mathematisch, mir war Chemie zu einseitig. Also tauschten wir.

STANDARD: Waren Sie enttäuscht?

Seidler: Erstmal ja, aber eigentlich nicht. Denn mir haben die naturwissenschaftlichen Fächer und Mathe in der Schule genauso viel Spaß gemacht. Und im Studium merkte ich dann, dass es mir liegt. Man sollte bei der Studienwahl also immer zweimal hinsehen.

STANDARD: Was hat sich denn seit 1919 für Frauen verändert?

Seidler: In einzelnen Bereichen ist es ein Stück weit normaler geworden, dass Frauen technische oder techniknahe Berufe ergreifen. Die Gesellschaft hat sich weiterentwickelt. Auch die Studiengänge, damals waren diese eher eine Berufsausbildung. Das ist auch einer der Gründe, warum Frauen erst 1919 zugelassen wurden: Man konnte sich nicht vorstellen, dass Frauen als Bauingenieurin arbeiten.

STANDARD: Trotzdem ist der Frauenanteil in hundert Jahren nur von 0,4 auf 30 Prozent gestiegen. Wieso? An anderen Unis studieren immerhin mehr Frauen als Männer ...

Seidler: Ich denke, es hängt wieder damit zusammen, wie wir die Berufe sehen. Maschinenbauer werden mit Schlossern verbunden, Elektrotechniker mit Elektrikern. Viele denken hier an einen Mann, der schwere körperliche, schmutzige Arbeit leistet. Das hat mit dem heutigen Berufsbild wenig zu tun. Diese Bilder aus den Köpfen zu bekommen ist sehr langwierig.

STANDARD: Was ist also zu tun?

Seidler: Den Frauen zu vermitteln, dass es sich lohnt, die Dinge zu tun, die einem Spaß machen, und sich dabei nicht in gesellschaftliche Rahmen zwängen zu lassen. Hier sind Vorbilder sehr wichtig, damit Ängste und Barrieren abgebaut werden. Denn die Studien- und die Berufswahl sind immer noch von gesellschaftlichen Normen abhängig. Auch, wie sich Freunde entscheiden, ist oft ausschlaggebender als der inhaltliche Aspekt.

STANDARD: Mit welchen Herausforderungen haben jene, die sich dafür entscheiden, zu kämpfen?

Seidler: Damit, dass man im Hörsaal als einzige oder eine der wenigen Frauen unter 200 Männern immer sichtbar ist. Das ist ein gewaltiger Druck. Viele engagieren sich daher in Frauennetzwerken, um einander zu stärken und zu wissen, dass man nicht allein ist.

STANDARD: Es gibt hier den Ansatz, das Lehrpersonal zu sensibilisieren. Was heißt das konkret?

Seidler: Wir müssen lernen, dass es, wie anderswo, normal ist, dass Frauen im Hörsaal sitzen. Da ist es ein Unding, wenn der Lehrende alle begrüßt und die Frau extra oder ihr Komplimente macht. Das verstärkt den Sonderstatus und ist kein normaler Umgang zwischen Lehrenden und Studierenden.

STANDARD: In der Architektur sind mehr Frauen als Männer. Warum?

Seidler: Da kann ich nur Klischees bedienen. Sicher ist: Überall dort, wo ein gesellschaftlicher Konnex hergestellt wird, zeigen Frauen Interesse. Das heißt nicht, dass das etwa in Elektrotechnik nicht so ist. Da greift man auch permanent mit seiner Arbeit in die Gesellschaft ein. Das müssen wir stärker vermitteln. Ich glaube, dass sich dann die Berufsbilder drehen werden.

STANDARD: Scheinbar ist auch der Name des Fachs ausschlaggebend, wie viele Frauen sich inskribieren. Ist das eine gute Maßnahme, um Frauen anzulocken?

Seidler: Gießt man nur alten Wein in neue Schläuche, sind die Frauen sicher ganz schnell wieder weg. Aber es ist evident, dass wir über die Namen Bilder im Kopf erzeugen.

STANDARD: Was funktioniert in puncto Frauenförderung also besonders gut und was nicht?

Seidler: Es geht darum, das System zu ändern, mit den bereits angesprochenen Mitteln. Nur die Frauen zu fördern macht keinen Sinn. Es ist ein Zusammenspiel.

STANDARD: Die Quote ist eine konkrete Frauenmaßnahme. Wie stehen Sie dazu?

Seidler: Ambivalent. Einerseits hat sie dazu geführt, dass Frauen in den Gremien sichtbarer sind, sich engagieren. Auch das Führungsverständnis ist ein anderes. Andererseits gibt es Leute, die einen als Quotenfrau sehen und nicht das, was man leistet. Mir ist das egal, solange ich weiß, dass ich einen guten Job mache – aus meiner Position ist das leicht gesagt. Muss man sich neben fachlichen Herausforderungen damit beschäftigen, ist das nicht immer einfach.

STANDARD: Wann werden die Geschlechter gleich verteilt sein?

Seidler: Entwickelt sich der Frauenanteil linear weiter, dauert das noch 200 Jahre. Ich gehe davon aus, dass es eine exponentielle Entwicklung geben wird und wir irgendwann den kritischen Punkt überschreiten werden, wo der Anteil nach oben schießt. Aber jede Prognose ist richtig oder falsch. (Interview: Selina Thaler, 13.4.2019)